„De voetganger wordt koning“ – Der Fußgänger wird König.
Entsprechend diesem Motto ist ein Großteil der Brüsseler Innenstadt seit Juni 2015 in eine Fußgängerzone verwandelt worden. Der Boulevard Anspach und einige umliegenden Straßen bilden gemeinsam mit dem Großen Rathausplatz und den angrenzenden Gassen nach Venedig die zweitgrößte Fußgängerzone Europas.
Der Boulevard Anspach, niederländisch Anspachlaan, ist eine wichtige Achse durch das Brüsseler Zentrum. Die zwischen 1868 und 1871 gebaute Allee verläuft am westlichen Rand der Innenstadt und verbindet die beiden Plätze De Brouckèreplein und Fontainasplein miteinander.
Bereits seit 2003 arbeitet die Stadt Brüssel an einem Maßnahmenpaket, um die starke Luftverschmutzung und das hohe Stauaufkommen zu reduzieren und mehr urbane Qualität zu schaffen. “Für die vergangenen 40 Jahre war Brüssel als eine Stadt für das Automobil bekannt. Nun muss es wieder eine Stadt für die Menschen werden”, so Pascal Smet, Brüsseler Minister für Mobilität und Bau.
Hinzu kamen wachsende Proteste aus der Bevölkerung. Im Jahr 2012 protestierten mehr als 2.000 Menschen mit Straßenpicknicks vor der Börse auf dem Boulevard Anspach gegen die Mobilitätspolitik der Stadt Brüssel. Bürgermeister Freddy Thielemans reagierte zunächst mit temporären halbtägigen Sperrungen an Sonntagnachmittagen. Am 29. Juni 2015 folgte die Vollsperrung.
In einem achtmonatigen Test sollte zunächst geprüft werden, welche Folgen eine dauerhafte Sperrung haben würde. Der motorisierte Verkehr wird nun über eine Art Mini-Umgehungsring um die Innenstadt geführt, der Boulevard Anspach ist mit Ausnahme für den Lieferverkehr nur noch für Fußgänger und Radfahrer freigegeben. Temporäre Gestaltungselemente wie Blumenkübel, Holzbänke in verschiedenster Ausführung, Sandflächen für Pétanque und Tischtennisplatten schaffen mit einfachen Mitteln die notwendige Aufenthaltsqualität.
Seit 2016 wird in Brüssel an der dauerhaften Umgestaltung des Boulevard Anspach gearbeitet. Trotz Protesten von Einzelhändlern soll die Fußgängerzone dauerhaft baulich ausgeprägt werden. Im Probezeitraum sanken die Umsätze des Einzelhandels um 20 bis 30 Prozent, erholten sich aber über die Zeit und waren bspw. im Monat Oktober 2015 besser als im Vorjahr. Auch auf dem Boulevard Anspach kam es zu einer Anpassungsreaktion – stark autoabhängige Nutzungen werden teilweise verdrängt, weil sie nicht zum veränderten Umfeld passen. An ihre Stelle treten Läden, welche stärker auf Laufkundschaft ausgerichtet sind und im Vergleich einen höheren Umsatz je Quadratmeter erwirtschaften. Abschließende Aussagen können jedoch noch nicht getroffen werden, da die Terroranschläge in Paris und Brüssel die Einzelhandelsumsätze in Brüssel stark negativ beeinflusst haben.
In der Brüsseler Innenstadt stehen zudem über 20.000 Parkplätze zur Verfügung, von denen sich die meisten in einer Entfernung von 350 Metern rund um den Boulevard Anspach befinden. Der Bau von vier weiteren Parkhäusern ist geplant, eines soll im Juni 2018 eröffnen. Bis 2019 soll zudem ein weiteres Parkhaus mit 10.000 Stellplätzen in Heysel (fr) / Heizel (nl) im Umfeld des Expo-Geländes, der Messe, des neuen Eurostadions und des Atomiums errichtet werden. Von dort gelangt man mit öffentlichen Verkehrsmitteln in knapp 25 Minuten in die Innenstadt. Mit dem Pkw benötigt man für die gleiche Strecke bei freier Fahrt 20 Minuten, im staubelasteten Brüssel erscheint dies jedoch utopisch.
Das Projekt
Seit Januar 2016 existiert der Stadtratsbeschluss, den Boulevard Anspach umzubauen. Die Bauarbeiten sollten laut ursprünglichen Planungen bis 2018 und somit vor der nächsten Kommunalwahl in Brüssel abgeschlossen sein. Die Kosten betragen rund zehn Millionen Euro. In diesen inkludiert sind die Sanierung der U-Bahnhöfe Bourse und De Brouckère und die Schaffung neuer Radabstellanlagen.
Die ersten Umbaumaßnahmen sollen noch 2016 an den Enden des Boulevards aufgenommen werden. Zunächst werden der Place de Brouckère und Fontainas umgestaltet.
Von dort aus arbeitet man sich nach innen vor und möchte im Endzustand mehrere verschiedenen Räume erschaffen, welche nach Größe, Form, Atmosphäre und Funktion verschiedene Nutzungsmöglichkeiten ermöglichen.
- De Brouckère dient als “Agora” für großere Veranstaltungen und Zusammenkünfte
- Leuchtelemente sollen dem “Foyer Urbain” ein modernes Antlitz geben
- Die “City Promenade” soll die starken Fußgängerströme in Nord-Süd-Richtung und Ost-West-Richtung aufnehmen
- Der Platz vor der Börse soll als Stadtplatz und “urbanes Theater” fungieren
- Die “grüne Promenade” soll Aufenthaltsqualität zwischen Bourse und Fontainas schaffen
- Fontainas wird zu einem “Stadtgarten” als Treffpunkt und Verbindung verschiedener Nachbarschaften und Stadtquartiere
Mit dem Umbau sind nicht nur Hoffnungen verbunden, den öffentlichen Verkehr wie auch den Fuß- und Radverkehr zu stärken. Vielmehr soll die neue Fußgängerzone auch Impulse für eine weitergehende Mobilitätswende in der gesamten Stadt setzen. Durch die Schaffung neuer Aufenthaltsräume in der dicht besiedelten Stadt soll neue urbane Qualität geschaffen werden. Zudem besteht Hoffnung, dass die Luftverschmutzung zumindest geringfügig gesenkt werden kann. Erste Daten lassen einen entsprechenden Trend erkennen, müssen jedoch noch mittelfristig bestätigt werden.
Entwicklungen
Insbesondere der Einbruch der Einzelhandelsumsätze im Nachgang der Terroranschläge in Brüssel am 22. März 2016 hat Forderungen Auftrieb gegeben, die Sperrung für den Autoverkehr zurückzunehmen. Im Brüsseler Stadtrat wurde bereits beschlossen, die Lakensestraat und die Zuidstraat wieder für den Autoverkehr zu öffnen und den Brouckèreplein in beide Richtungen überfahrbar zu machen. Die Zuidstraat soll von einer Fußgängerzone in einen verkehrsberuhigten Bereich umgewandelt werden.
Der Druck auf den Bürgermeister wächst zunehmend, er bekommt jedoch auch Unterstützung aus anderen Städten. Der ehemalige Bürgermeister aus Gent, welcher die erfolgreiche Umgestaltung der Innenstadt gegen große Widerstände durchführte, unterstützt das Vorhaben und wirbt für einen langen Atem. Eine Delegation aus Oslo hat sich vor Ort informiert, um Informationen und positive Erfahrungen für ein ähnliches Projekt in der norwegischen Hauptstadt zu gewinnen.
Und auch aus der Bevölkerung kommt Unterstützung. Die Initiative “Hoera voetganger koning – Jippie piéton roi!” wirbt für Aktionen gegen die aus ihrer Sicht uninspirierten Händler und deren negative Einstellung gegenüber Veränderungen.
Die französische Einzelhandelskette Carrefour hat angekündigt, in der Fußgängerzone einen neuen Supermarkt mit einer Verkaufsfläche von 1.000 m² zu eröffnen. Dies bringt erstmals wieder einen Vollsortimenter in diese Gegend.
Bei einer Umfrage von Dedicated Research im Auftrag von La Dernière Heure haben 70 Prozent von 620 befragten Bewohnerinnen und Bewohner der Region Brüssel Unterstützung für die Fußgängerzone bekundet. Insbesondere jüngere Menschen (51 % Zustimmung zwischen 18 und 35 Jahren, 34 % bei den über 55-Jährigen) und Bewohner der Innenstadt befürworten deren Existenz. Männer unterstützen das Projekt zu 48 Prozent, während Frauen dies nur zu 35 Prozent machen.
21 Prozent der Befragten möchten gerne den Ursprungszustand wiederherstellen, 19 Prozent eine Verkleinerung und 16 Prozent eine zeitliche Begrenzung. Uneingeschränkt stimmen nur 41 Prozent der Befragten dem Projekt zu.
Kritisiert werden vor allem die fehlende Sauberkeit (58 %), die Probleme für den Handel (54 %), die verkehrlichen Einschränkungen (52 %) und die fehlende Gestaltung (41 %). 42 % der Befragten hatten das Gefühl, dass das Vorhaben nicht wirklich den Status eines Projekts habe.
Am 16.06.2016 hat der Staatsrat der Region Brüssel-Stadt empfohlen, die Baugenehmigung für den Umbau des Boulevard Anspach vorübergehend auszusetzen. Zwei Einzelhandelsverbände hatten geklagt. Ihre Einwände seien im Beteiligungsverfahren nicht ausreichend gehört worden. Vor einer endgültigen Entscheidung des Staatsrates hat die Stadt Brüssel die Genehmigung widerrufen und angekündigt, das Genehmigungsverfahren und die Erstellung einer neuen Wirkungsanalyse bis zum Ende des Jahres 2016 erneut durchzuführen. Verzögerungen würden dadurch nicht entstehen, jedoch könne die Fertigstellung für das Jahr 2018 nicht garantiert werden.
Dieser Artikel wird in unregelmäßigen Abständen aktualisiert. Bei neuen Entwicklungen, welche noch nicht eingearbeitet sind, freue ich mich über Hinweise in den Kommentaren.
So schoen, die Enge und das Gedränge bekommt eine Alternative, die Innenstadt wird vergrößert, fühlt sich so gut an im Vergleich zu der Situation vorher. Ganz sicher der richtige Weg,