Am 14. August hat das Insurance Institute for Highway Safety (IIHS), ein Institut der US-Automobilversicherer, seinen Bericht über “Small Overlap Crashtests” (deutsch: Crashtests mit geringer seitlicher Überdeckung) vorgestellt (Pressemitteilung). Zum ersten Mal wurden in den USA Crashtests mit 64,4 km/h Geschwindigkeit und 25 Prozent Überlappung auf ein feststehendes Hindernis durchgeführt. Die Art von Unfällen wird vom IIHS bereits seit einigen Jahren als Real-Crashfall eingestuft und intensiv untersucht 1. Bisher haben sich Kollisionen mit einer starren Barriere allerdings als nicht zwingend realitätsgenau erwiesen. Daher besteht in diesem Bereich weiterer Forschungsbedarf, der durch den nun erfolgten Crashtest weiter geschlossen werden sollte. Leider ist dies in der medialen Empörung etwas untergegangen.
Im Rahmen des “Small Overlap Crashtest” wurden einige Fahrzeuge deutscher Fahrzeugbauer als mangelhaft eingestuft. Vermengt mit der Pressearbeit der Automobilhersteller wurde in Folge das Bild gezeichnet, dass diese Art von Unfällen unrealistisch einstuft. Der Testaufbau sei daher nicht zwingend sicherheitsrelevant. “Der Test entspricht nicht dem realen Unfallgeschehen, ein Zusammenstoß auf Scheinwerfer-Breite ist statistisch nach unseren Daten nicht signifikant” – so ein Mercedes-Sprecher im Spiegel Online-Interview. Zudem wurde Kritik geäußert, dass nahezu kein Fahrzeug von General Motors oder anderer US-Autobauer getestet worden sei und dieser Crashtest nur das Ziel habe, deutsche Automobilhersteller zu schädigen und die US-Autobranche indirekt zu unterstützen.
Ob dies nun wirklich das Ziel des IIHS war, soll jeder für sich selbst entscheiden. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass derzeit einige neue Crashtestkonfigurationen für Kollisionen mit geringer seitlicher Überdeckung in Entwicklung sind (u.a. auch NHTSA) und die Planungen für den vom IIHS durchgeführten Crashtest bereits im Jahr 2009 begonnen wurden. Welche Fahrzeuge aus welchen Gründen für den Test herangezogen wurden, ändert erst mal nichts an den Ergebnissen.
[Ergänzung vom 01.09.2012]
Die Folgen von Unfällen mit geringer seitlicher Überdeckung werden in Deutschland bereits seit einigen Jahren von Professor Dipl.-Ing. Peter Schimmelpfennig und Dipl.-Ing. Wolfram Kalthoff von der crashtest-service.com GmbH in Münster erforscht. Der Crashtest ist aus konkreten Fällen der Unfallrekonstruktion entstanden und könnte in bestehende Prüfvorgänge eingebunden werden. Im Rahmen der Untersuchung wurde eine Sicherheitsstoßstange für Personenkraftwagen entwickelt, “die jeweils an den Längsträgern des Fahrzeuges, an der Fahrzeugfront bzw. dem Fahrzeugheck angeordnet ist. Sie ist im Übergang zur Fahrzeugseite abgerundet gestaltet und reicht im lateralen Bereich von der Front bis zur Vorderkante des Vorderrades und von dem Heck bis zur Hinterkante des Hinterrades. Die Breite der Stoßstange zwischen den seitlichen Flanken schließt die Spurbreite ein, so daß diese Flanken im Kollisionsfall die Räder seitlich abdecken. Die Höhe der Stoßstange deckt nach unten hin die Achse der Räder und nach oben etwa 80% der Höhe der Frontmaske des Fahrzeuges ab. Die Sicherheitsstoßstange ist ein struktursteifes Bauteil, das in sich nicht deformierbar ist, sondern auftreffende Kräfte in den Deformationsbereich des Fahrzeuges weiterleitet bei gleichzeitig glatter Oberfläche, die einen Abgleiteffekt unterstützt.” (Zusammenfassung Deutsches Patent- und Markenamt)
Disclosure: Aufmerksam wurde ich auf die Entwicklung durch eine Mail von Prof. Schimmelpfennig, verbunden mit einer Einladung auf den Crashteststand in Münster, die ich angenommen habe.
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Sollten die Crashtestergebnisse mit realen Unfallfolgen übereinstimmen, dürfte dieser Crashtest in das Standardtestreportoire aufgenommen und somit auch Fahrzeuge US-amerikanischer Hersteller diesem Test unterzogen werden. In den nächsten Crashtests sollen unter anderem Fahrzeuge der Automobilhersteller Ford und GM getestet werden. Bislang testet die NHTSA nur Frontalkollisionen mit 100 Prozent Aufprallfläche.
In einer 2009 durch die IIHS durchgeführten Studie 2 waren Unfallkonstellationen mit geringer seitlicher Überdeckung für 25 Prozent aller Unfälle mit tödlichen oder schweren Verletzungen ursächlich. Dieser Unfalltyp ist regelmäßig Ursache bei schweren Verletzungen der Insassen auf den Vordersitzen. Weitere 24 Prozent waren Unfälle mit größerer seitlicher Überdeckung. Die Kollisionsgeschwindigkeiten sind auf Landstraßen jedoch oftmals höher als bei den nun durchgeführten Crashtests, sodass diese Ergebnisse nicht vollständig die realen Unfallmuster abdecken.
Eine Studie des Medical College of Wisconsin 3 wies bei Unfällen mit geringer seitlicher Überdeckung ein erhöhtes Verletzungsrisiko für den Kopf- und Brustbereich, für die Wirbelsäule, die Hüfte und das Becken nach. Diese Verletzungsmuster konnten häufig auf zweistreifigen Landstraßen ohne Mittelstreifen sowie bei Kollisionen mit Bäumen und Pollern festgestellt werden.
Wer sich etwas weiter in diese Thematik der Kollisionen mit geringer seitlicher Überdeckung einlesen möchte, dem seien an dieser Stelle die folgenden Berichte / Studien empfohlen:
O’Neill, B.; Lund, A.K.; Zuby, D.S.; Preuss, C.A.1994. Offset frontal impacts – a comparison ofreal-world crashes with laboratory tests. Proceedings of the 14th International Technical Conference on the Enhanced Safety of Vehicles. Paper no. 94-S4-O-19. Washington, DC: National Highway Traffic Safety Administration.
Eichberger, A.; Schimpl, W.; and Fellner, B. 2008. Development of a crash test configuration for car-to-car frontal collisions with small lateral overlap. Conference Proceedings of the 17th Annual EVU Congress. Graz, Austria: European Association for Accident Research and Analysis (EVU).
Stephan, W.; Bernd, F.; Wilhelm, B.; and Hermann, S. 2001. Sliding collisions in case of frontalcrash with small lateral offset. Graz, Austria: Steyr-Daimler-Puch Fahrzeugtechnik. (Download)
Wieso sind Crashtests mit geringer seitlicher Überdeckung sinnvoll?
Bei Frontalcrashtests wie sie beispielsweise von Euro-NCAP oder US-NCAP durchgeführt werden ist immer mindestens ein Fahrzeuglängsträger betroffen, der die kinetische Energie in Deformationsenergie umwandelt (siehe auch Unterschied zwischen den Crashtestarten). Insbesondere der Motorblock nimmt einen Großteil der Energie auf. Bei seitlich überdeckten Zusammenstößen sind solche Energieabsorptionselemente nicht vorhanden, wodurch es zu starken und mitunter auch gefährlichen Verformungen kommt. Die größte Schutzwirkung für die Fahrzeuginsassen hat die Sicherheitsfahrgastzelle. Durch die Kombination aus Sicherheitszelle und Knautschzone wird die Bewegungsenergie eines Aufpralls durch Verformung teilweise absorbiert und so die auf die Fahrgastzelle einwirkende Energie minimiert. Bei Unfällen mit seitlicher Überdeckung fehlt die stabilisierende Wirkung des Fahrzeugkäfigs. Die größte Energie wirkt auf die Stoßstange, den Kotflügel und die Vorderräder. Da all diese Fahrzeugelemente eher weich konzentriert sind, kommt es durch die Bewegungsenergie des Aufpralls zu großen Verschiebungen. So können die Reifen in den Fußraum geschoben werden, wo schwere Verletzungen der Beine und Füße entstehen können. Ein weiteres Problem ist die erhöhte Gefahr in einem Fahrzeug eingeklemmt zu werden.
Um die Sicherheit weiter zu erhöhen, muss der untere Bereich der Fahrgastzelle weiter verstärkt und die Energie absorbierenden Elemente der Knautschzone verbreitert werden.
Kollisionen zwischen zwei Fahrzeugen werden mit einer Barriere nach ECE R94 überprüft. Die Aufprallgeschwindigkeit beträgt 112 km/h (zwei Fahrzeuge mit je 56 km/h Geschwindigkeit) und einem seitlichen Überdeckungsgrad von 17 Prozent. Der Aufprall geschieht frontal (Aufprallwinkel: 0°). Diese und vergleichbare Tests werden schon seit einigen Jahren von Automobilherstellern durchgeführt.
Für den nun durchgeführten Crashtest wurde vom Insurance Institute for Highway Safety eine starre Barriere verwendet. Der Aufprall auf eine solche Barriere ist vergleichbar zu Kollisionen mit Brückenpfeilern, Bäumen und stehenden schweren Fahrzeugen wie Baumaschinen, die vor allem im Autobahnbereich zum Einsatz kommen.
Durch den meist geringen Radius der Barriere kommt es oft zu einem “Einschneiden” in das Fahrzeug. Dadurch wird punktuell sehr starke kinetische Energie frei.
Was wären die Folgen für die Automobilindustrie?
Eine Verstärkung der seitlichen Kollisionsflächen würde Fahrzeuge schwerer und teurer machen. Der Volvo S60 hat weitere Versteifungselemente im seitlichen Motorraum und eine Querstrebe hinter dem Instrumentenbord verbaut. Dies erklärt auch das gute Ergebnis im Test.
Herr Schilp führt das gute Abschneiden des Volvo S60 in den Kommentaren auf Folgendes zurück:
Wie alle modernen Fahrzeuge verfügt der S60 in der Mitte der Fahrzeugfront über ein Crashelement, das beim Aufprall Energie durch Verformung aufnimmt. Ebenso gibt es entlang des Kotflügels, also in Längsrichtung, eine vergleichbare Konstruktion. Beim Volvo S60 ist diese jedoch verstärkt und mit dem Crashelement in der Front verbunden. Die Aufprallenergie wird also auf mehrere Lastpfade verteilt. Die Crashstruktur spannt sich wie ein Bogen um die Fahrzeugfront.
Die Testergebnisse
Für die Bewertung der Sicherheit wurden einige Kriterien festgelegt. So entsteht um die Einschlagstelle oft eine starke Rotationsenergie, sodass die Seitenairbags auslösen müssen. Falls sich eine Tür öffnet oder die Sitzbefestigung versagt, erfolgte eine Abstufung auf “grenzwertig”. Das Protokoll des Testablaufs sowie die Bewertungskriterien können hier heruntergeladen werden. Weitere Details und schematische Zeichnungen finden sich im Entwurf des Testprotokolls.
Von den elf getesteten mittelgroßen Oberklasse- und Beinahe-Oberklasse-Fahrzeugen haben nur drei den Crastest bestanden. Der Acura TL und der Volvo S60 wurden mit gut bewertet, der Infiniti G erhielt ein annehmbar. Das gute Testergebnis des Acura und des Volvos hängt auch mit den Airbags zusammen, die speziell zum Schutz des Oberkörpers verbaut werden. Abzüge gab es für den Volvo wegen des späten Auslösezeitpunkts, sodass der Airbag seine volle Schutzwirkung nicht entfalten konnte. Der Acura TSX, der BMW 3er, der Lincoln MKZ und der Volkswagen Passat CC wurden mit grenzwertig bewertet. Beim Letzteren löste sich die Tür vom Fahrzeug. Dies war das erste Fahrzeug in der Testgeschichte des IIHS bei dem sich bei einem Crashtest eine Tür löste. Diese sollte bei Unfällen stets geschlossen bleiben, um ein Herausschleudern aus dem Fahrzeug zu verhindern. Beim Lincoln MKS nutzte der Seitenairbag nichts, da Kopf und Oberkörper neben dem Luftkissen aufschlugen und somit vollkommen ungeschützt waren.
Als mangelhaft wurden die Mercedes C-Klasse, der Lexus IS 250/350, der Audi A4 und der Lexus ES 350 bewertet. Auch beim Audi A4 öffnete sich im Test die Tür, blieb jedoch in der Verankerung. Beim Lexus IS 250/350 wurde die Fahrgastzelle zehn Mal so stark beschädigt wie beim Volvo S60. So war die A-Säule verbogen und das Vorderrad hatte sich in den Fußraum gebohrt und den Fuß der Dummyfigur eingeklemmt. Das gleiche Problem trat bei der C-Klasse von Mercedes auf. Hier wurde der rechte Fuß unter dem Bremspedal eingeklemmt. Die einzelnen Messwerte können hier abgerufen werden.
Interessanterweise werden diese Fahrzeuge wegen ihrer sonstigen Crashtestergebnisse weiterhin als “Top Safety Pick” eingestuft.
Die Crashtests im Einzelnen
Acura TL (gut)
Volvo S60 (gut)
Infiniti G (annehmbar)
Acura TSX (grenzwertig)
BMW 3er (grenzwertig)
Lincoln MKZ (grenzwertig)
Volkswagen Passat CC (grenzwertig)
Mercedes C-Klasse (mangelhaft)
Lexus IS 250/350 (mangelhaft)
Audi A4 (mangelhaft)
Lexus ES 350 (mangelhaft)
- siehe u.a. Christopher P. Sherwood, Joseph M. Nolan, David S. Zuby: CHARACTERISTICS OF SMALL OVERLAP CRASHES, Insurance Institute for Highway Safety, United States, Paper No. 09-0423, http://www-nrd.nhtsa.dot.gov/pdf/esv/esv21/09-0423.pdf ↩
- Matthew L. Brumbelow, Eric R. Teoh: ROOF STRENGTH AND INJURY RISK IN ROLLOVER CRASHES OF PASSENGER CARS AND SUVS; Insurance Institute for Highway Safety United States Paper No. 09-0502; http://www-nrd.nhtsa.dot.gov/pdf/esv/esv21/09-0502.pdf ↩
- Hallman JJ, Yoganandan N, Pintar FA, Maiman DJ.: Injury differences between small and large overlap frontal crashes, Department of Neurosurgery, Medical College of Wisconsin ↩
Das gute Abschneiden des Volvo S60 liegt vor allem daran, dass er eine eine andere Konstruktion im Vorderwagen aufweist. Neben spezifischen Verstärkungen gibt es eine Besonderheit.
Wie alle modernen Fahrzeuge verfügt der S60 in der Mitte der Fahrzeugfront über ein Crashelement, das beim Aufprall Energie durch Verformung aufnimmt. Ebenso gibt es entlang des Kotflügels, also in Längsrichtung, eine vergleichbare Konstruktion. Beim Volvo S60 ist diese jedoch verstärkt und mit dem Crashelement in der Front verbunden. Die Aufprallenergie wird also auf mehrere Lastpfade verteilt. Die Crashstruktur spannt sich wie ein Bogen um die Fahrzeugfront.
Video (ab 1:00 min) http://j.mp/OMGiyW
Hallo Herr Schilp,
vielen Dank für Ihre Ergänzungen. Ich habe den Artikel an geeigneter Stelle um Ihre Ausführungen ergänzt. Mein Wissen in Fahrzeugtechnik / -konstruktion ist leider stark ausbaufähig.
Schönen Gruß,
Martin Randelhoff