Wenn man das erste Mal in die niederländische Stadt Almere fährt, wundert man sich. Die Stadt, mit dem Zug etwa 25 Minuten und mit dem Auto dank Stau rund 45 Minuten von Amsterdam entfernt, fühlt sich nicht niederländisch an. Breite Straßen durchziehen die Stadt, keine Radwege sind zu sehen und links und rechts uniforme Reihenhaus-Züge. Kilometerweit.
Almere ist die jüngste Stadt der Niederlande und wird seit 1975 nach der Einpolderung des Flevolandpolders im Ijsselmeer errichtet. Mittlerweile leben 197.318 Menschen in der Stadt (Stand: 01.03.2015). Die siebtgrößte Stadt der Niederlande besteht aus den Stadtteilen Almere Stad, Almere Haven (ältester Stadtteil) und Almere Buiten. In Bau sind die Stadtteile Almere Hout und Almere Poort.
Die am stärksten wachsende Stadt der Niederlande soll bis 2030 350.000 Einwohner haben (siehe ‘Structural Vision Almere 2.0‘). Der Bau von Almere soll dabei helfen, die Wohnungsnot in Amsterdam zu lindern und die Überbevölkerung der zentralen Niederlande zu verringern. Dies bringt es mit sich, dass sich die Verkehrsströme zwischen Almere und Amsterdam stark einseitig ausgerichtet haben und es zu vielen Staus kommt.
Eine Besonderheit ist das Konzept der getrennten Verkehrswege: das Rad- und Fußwegenetz ist vom Busnetz sowie vom Netz für den motorisierten Individualverkehr räumlich getrennt. Erst unmittelbar in den verkehrsberuhigten Bereichen, z. B. der Wohngebiete, sind die getrennten Verkehrswege zusammengeführt.
Das vom restlichen Verkehr getrennte Radwegenetz umfasst 500 km. Radfahrer haben beim Kreuzen von Straßen Vorfahrt oder unterqueren diese höhenfrei. Damit Radfahrer keine großen Steigungen bewältigen müssen, wurden die Straßen auf 1,5 Meter hohen Wällen angelegt. Der Radverkehr muss somit beim Befahren der insgesamt 120 Unterführungen nur drei Höhenmeter bewältigen. Lichtsignalanlagen für den Radverkehr sind selten.
Almere liegt an der Bahnstrecke Weesp–Lelystad (Flevolijn). Da die Stadt ständig weiter wächst, wurden mit der Zeit immer mehr neue Bahnhöfe benötigt, weshalb Almere mittlerweile über sechs Bahnhöfe verfügt. Am Bahnhof Almere Centrum halten Intercity-Züge und Regionalzüge, an den Bahnhöfen Poort, Muziekwijk, Parkwijk, Buiten und Oostvaarders ausschließlich Regionalzüge. Entlang der Bahnroute verläuft der Spoorbaanpad, ein 12 Kilometer langer Radweg, der von etwa 21.000 Radfahrern / Tag genutzt wird.
Der städtische Nahverkehr in Almere basiert auf einem Busnetz mit zehn Linien und drei Nachtbuslinien. Die Busse werden von Connexxion, einem Tochterunternehmen der Transdev-BNG-Connexxion Holding BV (TBCH), betrieben.
Die Busse verkehren zum Großteil auf einem Netz von separaten Busspuren mit einer Länge von 105 Richtungskilometern (türkis eingezeichnet), die nur dem öffentlichen Verkehr vorbehalten sind.
An Kreuzungen mit Individualverkehr besitzen Busse eine durch Lichtsignalanlagen geregelte Vorfahrt. Der Radverkehr kann die Busspuren an speziellen LSA-gesicherten Furten queren.
Die Busse verkehren je Linie zwischen sechs bis acht Mal die Stunde. Es ergibt sich somit ein 7,5- bis 10-Minuten-Takt. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Busverkehrs war trotz der zahlreichen Bevorrechtigungen und Busspuren nicht sehr hoch. Erst die Abschaffung des Fronteinstiegs zugunsten des Alltüreneinstiegs in Verbindung mit elektronischen Fahrausweisen konnte diese signifikant erhöhen.
Almere liegt an den Autobahnen A6 und A27. Insbesondere die A6 in Richtung Amsterdam ist stark belastet und sehr stauanfällig. Derzeit wird die Autobahn auf vier Spuren je Richtung zuzüglich eines Standstreifens mit temporärer Standstreifenfreigabe ausgebaut.
Die N702 (Hogering und Buitenring) formen gemeinsam mit der A6 eine Ringstraße um die Stadt. Der Tussenring (N703) bietet zwischen Almere Parkwijk und Buiten aus Richtung Norden eine Anbindung an die A6. Innerhalb der Stadt verläuft mit der S103 (Veluwedreef, Randstaddreef, Waddendreef, Stedendreef und Havendreef) eine weitere Straße, die in Kombination mit der A6 einen inneren Ring formt.
Sackgassen sind im Nebenstraßennetz häufig. Im Vergleich zum Radverkehr, der meistens direkte Routen wählen kann, muss der motorisierte Individualverkehr Umwege zurücklegen. Fahrten mit dem Pkw zwischen den einzelnen Stadtteilen sind laut Analyse von Zhou1 nur über die Ringstraßen und Hauptstraßen komfortabel, während dem Radverkehr oftmals alternative Routenoptionen zur Verfügung stehen (siehe Karten von Zhou):
Almere selber weist nur einen geringen Anteil an produzierendem Gewerbe und Dienstleistungsgewerbe auf. Im Jahr 2010 kamen in Almere 0,73 Arbeitsplätze auf einen Arbeitnehmer.2 Ein großer Teil der Bevölkerung pendelt ins nahe Amsterdam. Die Strecke Almere – Amsterdam gilt als die am stärksten belastete Pendlerroute der Niederlande.
Diskussion – Almere als Planstadt
Almere als Stadt wird durchaus kontrovers gesehen. Auf 248,77 km² Fläche leben in der Gemeinde Almere 197.318 Menschen (Stand: 01.03.2015). Es ergibt sich eine Bevölkerungsdichte von 793,17 Einwohnern/km². In Amsterdam leben auf weniger Fläche (219 km²) mit 809.892 Menschen (Stand: 01.04.2015) weitaus mehr Personen. Es ergibt sich eine Bevölkerungsdichte von 3698 Einwohnern/km².
Almere wird als Stadt mit mehreren Kernen, einer geringen Dichte und funktionalen Trennung im Top-Down-Verfahren geplant und gebaut. Ziel ist eine Bebauung von 38 Häusern je Hektar. 80 Prozent der Gebäude sollen niedrige Ein- und Mehrfamilienhäuser, Reihenhäuser sowie Mehrfamilienhäuser in verschiedenen Höhen sein.3 Dies entspricht den Ergebnissen einer Befragung aus dem Jahr 1963, in welcher 80 bis 90 Prozent der Befragten den Bau von niedrigen Einfamilien-Reihenhäusern in den Niederlanden favorisierten (ebd.). Ein Grund für die Attraktivität dieses Haustyps dürfte sein, dass sich insbesondere Familien günstigen und relativ großen Wohnraum leisten können. Das rasche Wachstum Almeres hat gezeigt, dass diese Strategie erfolgreich zu sein scheint.
Verschiedene Nutzungsarten und Stadtviertel sollen durch Grünzüge und Gewässer voneinander räumlich getrennt sein. Durch dieses Vorgehen wurde jedoch ein hoher Flächenverbrauch mit für niederländische Verhältnisse großen Entfernungen erzeugt. Hierzu trägt auch das Fehlen eines richtigen Stadtzentrums bei. Der Bau von ‘Stadshart Almere’ (Herz der Stadt Almere) wurde erst 1997 begonnen und umfasst erste Büro-Hochhäuser nördlich sowie ein Mischgebiet (Einkaufen, Aufenthalt, Freizeit) südlich der Bahnstrecke.
Im historischen Kontext folgt Almere mit der ursprünglichen Beschränkung auf 250.000 Einwohner bei 37.000 Hektar dem Gartenstadt-Modell des Briten Ebenezer Howard aus dem Jahr 1898. Die einzelnen Stadtteile Almeres wurden durch breite Grünstreifen sowohl räumlich als auch in ihrer Nutzung voneinander getrennt. Ein erster Entwurf von Almere sah den Bau einer Kernstadt mit 100.000 Einwohnern vor, die von mehreren eigenständigen Stadtteilen umgeben sein sollte.
Hinzu kommt das Bewusstsein einer Endlichkeit der Ressourcen, welche im Rahmen der Ölkrise 1973 deutlich wurde. Auf dieser Basis wurde eine Infrastruktur für den ÖPNV geschaffen, die weit über die damalige Nachfrage hinausging und auch heute noch ausreichend Kapazitätsreserven besitzt (Van der Waal, 1997: 200).
Die meisten Menschen leben gerne in der Stadt, auch wenn das Fehlen eines Zentrums mit einem urbanen Lebensgefühl und attraktiven Aufenthaltsmöglichkeiten bemängelt wird.4
Der Radverkehr und ÖPNV wird als komfortabel und sicher angesehen. Die Erreichbarkeit mit dem Fahrrad wird als sehr gut bewertet. Jedoch erscheinen einige Strecken – insbesondere zwischen den Stadtvierteln – relativ langweilig und eintönig zu sein. Die Trennung der Verkehrsarten macht das Zurücklegen von Wegen einfacher als in anderen Städten.
Bewohnerinnen und Bewohner Almeres bemängeln das hohe Stauaufkommen, welches insbesondere zwischen Almere und Amsterdam sowie den Autobahnen A1, A6 und A27 sowie dem Buitenhoutsedreef, einer lokalen Hauptverkehrsstraße, auftritt. Generell wird das Hauptstraßennetz als vergleichsweise stark belastet bewertet. Wälle, welche als Lärmschutzmaßnahme entlang der Hauptstraßen verlaufen und mit Bäumen bepflanzt sind, beeinträchtigen die Sichtbarkeit und somit Verkehrssicherheit negativ (Zhou und Commandeur 2009: 307).
- Zhou, Jing (2012): Urban Vitality in Dutch and Chinese New Towns. A comparative study between Almere and Tongzhou. Diss. TU Delft ↩
- Karst T. Geurs, Kevin J. Krizek, Aura Reggiani (2012): Accessibility Analysis and Transport Planning: Challenges for Europe and North America. Edward Elgar Publishing. S. 145 ↩
- Van der Waal, Coen. 1997. In Praise of Common Sense: Planning the Ordinary. A Physical Planning History of the New Towns in the Ijsselmeer Polders. Rotterdam: 010 Publishers. ↩
- Zhou, F.; Commandeur, S.E. (2009): Urban culture in new town Almere. TU Delft ↩
Wenn man ehrlich ist, dann ist der Unterschied zum amerikanischen suburban sprawl auch nicht so gross.
Was mich mal interessieren würde, warum so viele beim Pendeln auf das Auto setzen, wo doch scheinbar eine gute Bahnanbindung gegeben ist.
Die Frage ist, wo sich die Arbeitsplätze der Bewohner Almeres finden. Die Sprinter in Richtung Amsterdam Centraal halten außerhalb Almeres noch in Weesp, Diemen, Amsterdam Science Park und Amsterdam Muiderpoort. Die IC in Richtung Schiphol halten noch in Duivendrecht und Amsterdam Zuid. Vielleicht ist die Reisezeit mit Zug und ÖPNV / Rad zu lange im Vergleich zum Pkw.
Ich habe in Almere Centrum (dort halten die IC, an anderen Stationen in Almere nur Sprinter) auch keine großen P&R-Anlagen gesehen. Liegt ja auch mitten in der Stadt, die Wege wären auch relativ weit. P&R konnte ich nur in Almere Poort sehen, dort waren aber noch sehr viele Stellplätze frei. Dieses Stadtviertel ist aber auch noch nicht entwickelt.
Ohne eingehende Analyse der Pendlerbeziehungen wird man aber auch keine eindeutige Antwort finden können.
Wenn die Wege in Almere mit dem Rad zum Bahnhof schon zu weit sind, dann kann man das Konzept eigentlich nur recht skeptisch beäugen.
Es führt wohl kein Weg vorbei an den Städten der kurzen Wege und dazwischen braucht es halt einen vernünftigen OPNV.
In wieweit macht sich die Separierung des Verkehrs in den Unfallstatistiken bemerkbar ? Liegt da Almere deutlich besser als andere Städte in NL mit nicht weitgehend kreuzungsfreien Radwegnetzen ?
Hallo,
In Almere gab es in den vergangenen Jahren etwa drei bis fünf Verkehrstote pro Jahr. Auf die Einwohner umgelegt, erzielt man im Vergleich zu anderen niederländischen Städten bessere Ergebnisse. Aufgrund der geringen Fallzahlen kann man aber darüber diskutieren, ob der Sicherheitsunterschied statistisch signifikant ist. Ein größerer schwerer Unfall kann die Ergebnisse schließlich stark verzerren.
Daten: http://www.cbs.nl/NR/rdonlyres/7F44AC7F-0FFA-4F58-A1CF-90C91CE4862A/0/2013verkeersdodengrotegemeenten20052012.xls [xls]
Übrigens: In dieser Studie kam man zu dem Ergebnis, dass die Trennung zu einer höheren Verkehrssicherheit für Radfahrer führt.
http://www.researchgate.net/profile/Paul_Schepers/publication/256445176_Road_safety_and_bicycle_usage_impacts_of_unbundling_vehicular_and_cycle_traffic_in_Dutch_urban_networks/links/0deec5229fc32963ba000000.pdf
Viele Grüße,
Martin Randelhoff
Ich nach den Zahlen gefragt, weil die in Almelo praktizierte Totalseparierung mit einem kreuzungsfrei angelegten Radwegnetz den maximal durch Separierung erreichbaren Sicherheitsgewinn aufzeigt.
Allerdings muss man sehr vorsichtig sein, wenn man aus den Zahlen von Almelo schließen will, das Separierung auch für andere Städte die richtige Lösung ist. Denn kreuzungsfreie Führung von Radwegen ist in gewachsenen Städten nur in Ausnahmefällen möglich.
Aber genau in den dann existierenden Kreuzungen zwischen separierten Radwegen und querenden KFZ-Verkehr entstehen dann Unfallschwerpunkte, die Sicherheitsgewinne durch Vermeidung von Überhol- und Auffahrunfällen zwischen Radfahrern und KFZ wieder zunichte machen.