Müssen Ampelschaltungen starr angelegt werden? Oder brauchen Lichtsignalanlagen einen gewissen Grad an Autonomie? Dieser Frage sind nun unter anderem mein Statistikdozent Dr. Stefan Lämmer ( TU Dresden) und Prof. Dr. Dirk Helbing (Professor an der ETH Zürich, der eng mit dem Santa Fe Institut in New Mexico zusammenarbeitet) nachgegangen. 1
Das Ergebnis fünfjähriger Arbeit: ein System von selbstorganisierenden Lichtsignalanlagen würde die Stauanfälligkeit erheblich reduzieren. Der Schlüssel dazu ist eine “chaotische”, dezentralisierte Ampelschaltung, die einige Vorteile gegenüber eines starren Systems bietet.
Wir hatten den Ehrgeiz, ein Verkehrsleitsystem zu entwickeln, das ohne einen zentralen Supercomputer auskommen kann und besser funktioniert als gängige Verfahren der Verkehrssteuerung.
Prof. Dirk Helbing, ETH Zürich
Zwar ziehen bereits heute Straßen- und Verkehrsplaner Rot- und Grünphasen, die erwartete Verkehrsdichte zu bestimmten Tag- und Nachtzeiten, etc. in ihre Berechnungen ein, Unvorhergesehenes kann jedoch in einem starren Modell nur schwer berücksichtigt werden. Derzeitige Grüne Wellen basieren auf Mittelwertberechnungen zum Verkehrsfluss und den daraus resultierenden Vorhersagen. Damit sind sie auch immer von vergangenen Daten und Ereignissen abhängig. Vorhersehbare Ereignisse werden bereits heute in die Ampelschaltungen einprogrammiert. Grünphasen werden während der Hauptverkehrszeiten verlängert und computergesteuerte Ampelanlagen sorgen für eine Priorisierung des Öffentlichen Personennahverkehrs. Problematisch ist jedoch, dass Fußgänger und Radfahrer bei diesen Berechnungen häufig außen vor bleiben. Ebenso können liegen gebliebene Fahrzeuge, Baustellen, Wettereinflüsse oder größere Menschenmassen nicht in starre Ampelsteuerungen “gegossen” werden. Dadurch kann es zu Hindernissen im Verkehrsfluss kommen und somit zu Verkehrszusammenbrüchen, den sogenannten Staus und den damit verbundenen negativen Effekten (erhöhter Treibstoffverbrauch und Emissionsausstoß, Zeitverlust, erhöhte Lärmbelastung, etc.)
Um ihrem Ansatz einen Praxisbezug zu geben, wählten die beiden Wissenschaftler ein Testgebiet, die Gegend um den Bahnhof Dresden-Mitte, aus. An diesem möchte auch ich das Konzept der “chaotischen” Ampelsteuerung kurz vorstellen.
Kartenausriss Bahnhof Mitte, Dresden – OpenStreetMap
Im Verkehrsleitsystem der beiden Wissenschaftler misst jede einzelne Ampel mittels Detektoren, die am Beginn und Ende der Straßenabschnitte angebracht sind, die Anzahl und Geschwindigkeit der sich nähernden Fahrzeuge. Solange jede Ampel jeweils nach ihren eigenen Bedürfnissen schaltet, kann kein hindernisfreier Verkehrsfluss entstehen. Sobald die Ampeln untereinander kommunizieren, kann jede Ampel berechnen, wann und wie lange sie auf Grün schalten müsste, um die Fahrzeuge ohne anzuhalten passieren zu lassen. Diese Kommunikation führt automatisch zur Koordination der Verkehrsströme und zu einer neuen Art von grünen Wellen. Zusätzlich versucht die Steuerung, ein “Überlaufen” der Straßenabschnitte zu vermeiden.
In aufwendigen Computersimulationen, die für das Gebiet um den Bahnhof Mitte in Dresden durchgeführt wurden, bringt dieses selbstorganisierte und dezentrale Steuerungssystem allen Verkehrsteilnehmern Vorteile, denn es beruht nicht auf einem typischen Verkehrsaufkommen, sondern reagiert flexibel auf die tatsächlichen Verkehrsverhältnisse.
Im Gebiet um den Bahnhof Mitte in Dresden kreuzen sieben Bus- und Straßenbahnlinien zwei Hauptstraßen, es gibt 68 Fußgängerüberwege und 13 Ampelanlagen, von denen einige weniger als einhundert Meter voneinander entfernt liegen. Das Untersuchungsgebiet im Westen der Dresdner Innenstadt umfasst die Hauptachsen Könneritzstraße, Weißeritzstraße, Löbtauer Straße, Schweriner Straße und Schäferstraße. Zur Hauptverkehrszeit muss das Streckennetz 4.700 Fahrzeuge je Stunde bewältigen. Die Haltestellen in diesem Gebiet werden täglich von ca. 21.300 Ein-, Aus-, und Umsteigern frequentiert.
Die wichtigste Haltestelle im Untersuchungsgebiet, den Bahnhof Mitte, nutzen pro Tag etwa 13.000 Ein-, Aus- und Umsteiger. Insgesamt finden hier täglich ca. 1.100 Abfahrten mit Verkehrsmitteln der DVB AG statt. Pro Tag entstehen durch die Ampelschaltung (am Tag 100 Sekunden Umlaufzeit, die zur Hauptverkehrszeit auf 120 Sekunden ausgedehnt wird und nachts 75 Sekunden beträgt) über 20 Stunden lichtsignalbedingte Verlustzeiten für die Verkehrsmittel der DVB AG. Die Pünktlichkeit der Verkehrsmittel im Bereich Bahnhof Mitte liegt derzeit bei unter 50%. Die Fahrzeitstreuung um die Fahrplanzeit von beispielsweise 3:00 min beträgt bis zu 200% (schnellste gemessene Fahrt 2:26 Minuten, langsamste gemessene Fahrt 5:54 Minuten).
Das Prinzip der “chaotischen” Lichtsignalsteuerung funktioniert folgendermaßen: ein Zuflussdetektor mit möglichst großem Abstand von der zu beeinflussenden Ampelanlage misst den auf die Lichtsignalanlage zufließenden Verkehr. Ein Abflussdetektor auf Höhe der Haltelinie stellt fest, wie viele der am Zuflussdetektor gemessenen Fahrzeuge bereits abgeflossen sind und ob sich eine etwaige Warteschlange bereits geleert hat. Durch eine Vernetzung mehrerer Abflussdetektoren untereinander, ist es möglich auf einige Zuflussdetektoren zu verzichten, da der Abfluss an einer vorgelagerten Lichtsignalanlage einen Zufluss bei der nachgelagerten Lichtsignalanlage bedeutet.
Wichtige Parameter wie Abbiegebeziehungen, Fahrstreifenanzahl, Zwischenzeiten, Mindestfreigabezeiten, etc. sind fest gespeichert.
Dadurch reduzierte sich im Vergleich zum bisherigen System, mit dem die grünen Wellen in Dresden berechnet werden, die Wartezeit an roten Ampeln für die öffentlichen Verkehrsmittel um mehr als 50%. Busse und Straßenbahnen standen bei der Optimierung im Vordergrund, da diese beim bisherigen System der Grünen Welle im Vergleich zum Autoverkehr niedriger priorisiert waren. Eine “chaotische” Ampelsteuerung verringerte die Wartezeit für Radfahrer und Fußgänger um 36% und für PKW und LKW um immer noch neun Prozent.
- S. Lämmer, J. Krimmling, A. Hoppe (2009): Selbst-Steuerung von Lichtsignalanlagen – Regelungstechnischer Ansatz und Simulation. Straßenverkehrstechnik 11, 714-721. – http://stefanlaemmer.de/papers/Lammer2009.pdf ↩
“Verkehrsabhängige Ampel, bitte bis zur Haltelinie vorfahren”, als ich dieses Schild das erste Mal las, hatte ich die Illusion, dass genau eine solche Technik dahinter stehen würde – die Enttäuschung war groß. Hier in Bonn haben wir nicht einmal eine Grüne Welle. Ich würde mich sehr Freuen, wenn Ihr System den Verkehr allgemein organischer machen würde.