Für einen effektiven Klimaschutz, die Sicherung unseres Wohlstands und der Energieversorgung und die erfolgreiche Umsetzung einer Energiewende ist entscheidend, sowohl die Energieeffizienz zu steigern als auch den absoluten Energiebedarf zu senken. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Energiekonzept1 daher das Ziel gesetzt, den Stromverbrauch in Deutschland bis 2020 um zehn Prozent und bis 2050 um 25 Prozent im Vergleich zu 2008 zu verringern. Im Gebäudebereich soll sich der Heizwärmebedarf bis 2020 um 20 Prozent vermindern und der Primärenergiebedarf bis 2050 um 80 Prozent. Im Verkehr soll der Endenergiebedarf bis 2020 um zehn Prozent und bis 2050 um 40 Prozent im Vergleich zu 2005 sinken.
Das Ziel im Bereich Verkehr soll insbesondere durch eine Förderung der Elektromobilität (batterieelektrische Fahrzeuge wie auch Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie) sowie einer weiteren Steigerung von Biokomponenten in Kraftstoffen erreicht werden. Hinzu kommt eine Förderung von Erdgasfahrzeugen. Die Bundesregierung möchte sich laut ihres Energiekonzeptes “auf europäischer Ebene für eine ambitionierte Ausgestaltung der CO2-Grenzwerte für Neufahrzeuge [alle Fahrzeugklassen – von Zweirädern bis hin zu schweren Nutzfahrzeugen] einsetzen.” Weitere Komponenten sind die Einbeziehung des Flugverkehrs ins europäische Emissionshandelssystem, emissionsabhängig gespreizte Nutzerkosten für die Nutzung der Infrastruktur durch den Güterverkehr, eine Fortentwicklung der emissionsbasierten Kfz-Steuer und eine stärkere Berücksichtigung der jeweiligen Treibhausgasemissionen bei Besteuerung fossiler Kraftstoffe.
Die Investitionen in die Schieneninfrastruktur sollen ausgebaut und auf die Knotenpunkte und Engpässe konzentriert werden. Für die zentralen aufkommensstarken Verbindungen sollen spezielle Korridore für den Schienengüterverkehr entwickelt und prioritär ausgebaut werden. Somit soll eine Verlagerung insbesondere des Güterverkehrs auf die Schiene erreicht werden.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie konsequent und konsistent diese Strategie umgesetzt wird. Und ob mit ihr überhaupt die Ziele einer absoluten Senkung des Primär-, Endenergie- und Stromverbrauchs erreicht werden können.
Exkurs – Energieflüsse und Energieeffizienz in den USA
Das Lawrence Livermore National Laboratory bildet seit mehreren Jahrzehnten die Energieflüsse in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern in sogenannten Sankey-Diagrammen ab. Sankey-Diagramme visualisieren Energie- und Materialflüsse und zeigen Ineffizienzen und Einsparpotenziale im Umgang mit Ressourcen auf.
Die US-Energieflüsse für das Jahr 2016 stellen sich wie folgt dar:
Auf der linken Seite des Diagramms sind die Energiequellen abgetragen, auf der rechten Seite die Nutzungen und die jeweiligen Anteile der genutzten Energie (Energy Services) und der Energieverluste (Rejected Energy). “Rejected Energy” steht für den Anteil der Energie, der in einen Prozess einfließt, jedoch aufgrund von Wandlungsverlusten und den Grenzen der Physik nicht für den eingesetzten Zweck genutzt werden konnte.
Die Energieflüsse sind in sogenannten “Quads” angegeben, einer angloamerikanischen Maßeinheit für Energie. Sie ist definiert als 1 Quadrillion British thermal units (Btu; =1055 Joule).
Ein Quad entspricht hierbei
- 30,3 Milliarden Litern Benzin
- 27,26 Milliarden Litern Diesel
- 293.071.000.000 Kilowattstunden (kWh) ~ 293,07 Terawattstunden (TWh)
- 36.000.000 Tonnen Kohle
- 27,47 Milliarden m³ Erdgas
- 25,2 Millionen Tonnen Erdöl
- 13,3 Tonnen Uran 235
In den USA wurden im Jahr 2016 97,3 Quads Energie umgewandelt. Interessant ist der hohe Anteil an Wandlungsverlusten (Rejected Energy), welche neben der Strom- und Wärmeproduktion insbesondere im Verkehrssektor anfallen. Nur 21 % der Energie, welche im Verkehrssektor eingesetzt wird, wurde letztlich in Bewegung von Waren und Personen umgesetzt. Die restlichen 79 % wurden primär als thermische Energie (Wärme) an die Umgebung abgegeben.
Zwar setzt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik2 Grenzen hinsichtlich der effizienten Nutzung der eingesetzten Energie, jedoch stellt sich durchaus die Frage, wieso solch ein großer Anteil an Energie keiner Nutzung zugeführt wird. Im Verkehrsbereich ist diese Ineffizienz umso gravierender, da die eingesetzte Energie nahezu vollständig aus dem fossilen Energieträger Rohöl stammt (92,1 %), bei dessen Verbrennung Kohlendioxid in die Atmosphäre freigesetzt wird: (Achtung! Daten beziehen sich mangels neuerer Diagramme auf das Jahr 2014!)
Im Rückblick über die vergangenen Jahre fällt zudem auf, dass zwar über die Zeit mehr regenerative Energiequellen genutzt werden, jedoch gleichzeitig die absoluten Energieverluste wachsen. Die relativen Anteile wie auch die CO2-Emissionen des Verkehrssektors bleiben stabil, während andere Bereiche wie bspw. die Stromerzeugung oder die Industrie Effizienzgewinne verzeichnen. So sind bspw. die CO2-Emissionen im Bereich Stromerzeugung zwischen 2010 und 2014 von 2271 Millionen Tonnen auf 2040 Millionen Tonnen gesunken, die Wandlungsverluste haben sich von 67,8 % auf 67,2 % und weiter auf 66,4 % (2016) verringert.
1980 | 1990 | 2000 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2015 | 2016 | |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Energie- bedarf Verkehr (Quads) | 18,6 | 22,2 | 26,6 | 27,45 | 27,0 | 26,7 | 27,0 | 27,1 | 27,3 | 27,9 |
Energie- verlust Verkehr (Quads) | 13,9 | 16,6 | 21,3 | 20,59 | 20,3 | 21,1 | 21,3 | 21,4 | 21,6 | 22,0 |
Verlust- anteil Verkehr (%) | 74,7 | 74,8 | 80,1 | 75,0 | 75,2 | 79,0 | 78,9 | 79,0 | 79,1 | 78,9 |
CO2-Emissionen Verkehr (Mio. Tonnen) | - | - | 1847 [2001] | 1876 | 1850 | 1810 | 1830 | 1830 | - | - |
Energieflüsse und Energieeffizienz in Deutschland
Die Bundesrepublik Deutschland weist für das Jahr 2011 – neuere Diagramme liegen leider nicht vor – ebenfalls eine ineffiziente Verwandlung von Energie im Verkehrssektor auf. Von insgesamt 2.700 PJ eingesetzter Energie wurden im Verkehrssektor nur 570 PJ effektiv genutzt, 2.100 PJ gingen verlustig (77,8 %).
Im Vergleich zum Jahr 2007 hat sich der Gesamtenergieeinsatz in Deutschland von ~14.000 PJ auf ~13.300 PJ verringert. Jedoch ist der Energieeinsatz wie auch der Effizienzgrad im Verkehrssektor konstant geblieben, während es insbesondere im Bereich der Strom- und Wärmeerzeugung wie auch dem Industriebereich zu einem Rückgang der eingesetzten Energie kam. Im Gewerbe ist ein Anstieg zu beobachten. Im Verkehrssektor ist lediglich innerhalb der Energieflüsse ein Rückgang der Biomasse um 50 PJ und einem Anstieg von Erdgas um 27 PJ erkennbar.
Effizienz, Konsistenz und Suffizienz
Die gesetzten energiepolitischen Ziele können durch die drei Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz bzw. deren Kombination erreicht werden.
Die Konsistenzstrategie zielt darauf ab, natürliche Ressourcen nicht einmalig zu verbrauchen, sondern wiederholt zu nutzen. Stoffe und Energie sollen möglichst in Kreisläufen verwendet werden. Als Beispiele seien die Nutzung von Abwärme oder die Wiederverwendung von Brauchwasser in Fertigungsprozessen oder die Verwendung recycelter Stoffe genannt. Im Rahmen der Konsistenzstrategie sollen nachhaltigere Produkte entwickelt werden, die traditionelle Produkte ersetzen. Gleiches gilt für die Stromerzeugung, in der regenerative Energien fossile Energiequellen ablösen sollen. Die Konsistenzstrategie erfordert nicht nur Änderungen beim Design und der Produktion des Produkts selbst, sondern auch in dessen Vertrieb, der Organisation von Absatz- und Beschaffungsmärkten und der Wiedergewinnung von Abfällen. Im Verkehrsbereich wird die Konsistenzstrategie bspw. durch die Stärkung des Umweltverbundes (ÖPNV, Fuß, Rad) zulasten des motorisierten Individualverkehrs und den Ersatz des Verbrennungsmotors durch elektrische Antriebe verfolgt.
Die primär auf technischen Fortschritt setzende Effizienzstrategie ist am weitesten verbreitet. Hierbei sollen vorhandene Produkte und Anlagen ökologisch modernisiert werden, jedoch in ihrer bekannten Form bestehen bleiben. Ziel dieser Strategie ist ein sparsamerer Ressourcenverbrauch und der Versuch, die Wirtschaftsleistung vom Umweltverbrauch zu entkoppeln und Produkte und Verfahren durch ressourcenschonendere Alternativen zu ersetzen. Als Beispiel sei die Entwicklung effizienterer Motoren oder die Reduzierung des Energie- und Materialverbrauchs in Produktionsprozessen genannt. Der Staat versucht, technische Effizienzverbesserungen durch Mindesteffizienzstandards und Förderprogramme zu forcieren. Die Effizienzstrategie weist eine hohe Akzeptanz bei Unternehmen und der Bevölkerung auf. Durch die Erhöhung des Wirkungsgrades können bspw. ökonomische Gewinne realisiert werden.
Bei vielen Produkten und Gütern reichen die Marktkräfte jedoch nicht aus, um die Potenziale der Effizienzsteigerung auszuschöpfen. Die Amortisationszeiten sind mitunter sehr lang (z.B. energetische Sanierung von Gebäuden). Einige Produkte wie bspw. Pkw entziehen sich aufgrund der ihnen zugeschriebenen hohen Emotionalität dem rationalen Kalkül und unterliegen keinen rationalen Wirtschaftlichkeitskriterien.
Hinzu kommt eine Kompensation der realisierten Effizienzgewinne über die Zeit. Eine Effizienzsteigerung bei einem Gut oder einer Dienstleistung wirkt wie eine Preissenkung und ist damit, ceteris paribus, mit einer Zunahme der Nachfrage nach diesem Gut verbunden. Dieser sogenannte Rebound-Effekt, der auch als Jevons’ Paradoxon bekannt ist, kann in einigen Fällen so stark werden, dass die Effizienzgewinne überkompensiert werden. Diese sogenannten Backfire-Effekte haben einen Rebound von über 100 % zur Folge.
Im Verkehrsbereich wird die Verbesserung der Effizienz von Verhaltens- und Konsumreaktionen begleitet. Eine effizientere Motorentechnik mit geringeren Verbräuchen wird bspw. durch den Kauf größerer oder leistungsstärkerer Fahrzeuge mit einer höheren Komfortausstattung aufgehoben (siehe auch: Effizienzgewinne und Rebound-Effekte: Umweltwirkungen des Dieselantriebs im Vergleich). Durch die sinkenden Kosten je Kilometer wird Autofahren zudem attraktiver, die Zahl der Fahrten und Fahrleistung steigt.
Ein ähnlicher Effekt entsteht bei der Durchführung von Anti-Stauprogrammen oder dem Ausbau von Straßen. Etwaige Zeitgewinne werden innerhalb weniger Monate oder Jahre durch eine Ausweitung der Fahrleistung kompensiert (siehe auch: Grundlagenwissen – Das konstante Reisezeitbudget). Die Verkehrsmenge steigt wieder bis zu einer Überbeanspruchung der jeweiligen Straßenkapazität an. Erst im Zustand einer Überlastung bieten Alternativen wie der Öffentliche Personennahverkehr oder das Fahrrad Zeitgewinne oder eine erhöhte Bequemlichkeit und werden als Alternative in Betracht gezogen.
Die spezifischen CO2-Emissionen, also die Emissionen pro Verkehrsaufwand [CO2-Emissionen / Personenkilometer (Pkm)] sind zwischen 1995 und 2014 um 13 % gesunken, die gesamten Kohlendioxid-Emissionen des Pkw-Verkehrs im gleichen Zeitraum jedoch nur um zwei Prozent.
Dies gilt analog für den Güterverkehr: Durch effizientere Motorentechnik sinken die Betriebskosten des Straßengüterverkehrs, ein Ausbau von Straßen reduziert kurzfristig Stauzeiten und verkürzt somit die Fahrzeiten und Personalkosten. Beides trägt zu Kostenreduktionen des Straßentransports gegenüber alternativen Verkehrsarten wie dem Schienengüterverkehr bei, welche sich wiederum in einer höheren Nachfrage äußert. Als eine Folge steigt die Fahrleistung in diesem Segment.
Während die spezifischen CO2-Emissionen, also die Emissionen pro Verkehrsaufwand [CO2-Emissionen / Tonnenkilometern (Tkm)] des Straßengüterverkehrs zwischen 1995 und 2014 um 31 % gesunken sind, sind die absoluten Kohlendioxid-Emissionen des Straßengüterverkehrs sogar um 16 % gewachsen. Die technisch bedingten Senkungen des spezifischen CO2-Ausstoßes wurden letzten Endes durch den gestiegenen Verkehrsaufwand überkompensiert. Ökologisch und energetisch ist keine positive Entwicklung zu verzeichnen.
Diese Entwicklung lässt sich durch eine Betrachtung der Endenergieverbräuche im Verkehr in Deutschland über die Zeit nachvollziehen (für weitere Details und Hintergründe siehe [Fakt der Woche] Entwicklung des Endenergieverbrauchs im Verkehr in Deutschland von 1991 bis 2014):
Zwischen 1991 und 2014 ist der Endenergieverbrauch des Verkehrs um 8,3 % gestiegen, zwischen 2005 und 2014 um 1,7 %. Die Stellungnahme der Expertenkommission zum Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ der Bundesregierung zu dieser Entwicklung liest sich wie folgt:
Verantwortlich für diese Entwicklung sind sowohl der Individual- als auch der Güterverkehr auf der Straße. Beide Sektoren verzeichnen eine Zunahme der Gesamtfahrleistung auf die höchsten Werte in der Geschichte der Bundesrepublik, welche nicht durch Effizienzfortschritte kompensiert werden konnte. Hierbei spielen Rebound-Effekte zwischen verbesserter Fahrzeugeffizienz und Fahrleistung, aber auch zwischen Fahrzeugeffizienz und Fahrzeuggewicht und -leistung eine entscheidende Rolle. Für den Verkehrssektor stellt sich die Situation mit Blick auf die Erreichung des Ziels einer Verbrauchssenkung um 10 % bis 2020 gegenüber 2005 als besonders problematisch dar. Um dieses Ziel noch zu erreichen, müsste der Energieverbrauch im Vergleich zu 2014 jedes Jahr um 2 % gemindert werden, während es im Mittel der Jahre von 2005 bis 2014 sogar eine leichte Steigerung um 0,2 % gab.
– Expertenkommission zum Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ (2016): Stellungnahme zum fünften Monitoring-Bericht der Bundesregierung für das Berichtsjahr 2015, S. Z-3
Obwohl in den letzten Jahrzehnten im Verkehrsbereich wie auch in anderen Bereichen erhebliche Verbesserungen der Energieeffizienz in vielen Anwendungsfeldern erreicht wurden, ist keine ausreichende Reduktion des absoluten Energieverbrauchs zu beobachten. Die erzielten Effizienzverbesserungen technischer Geräte und Systeme werden “durch neue Technologien, Funktionen, Anwendungsgebiete, zunehmende Bedürfnisse, Komfortansprüche oder durch Ausweitung der Produktion, der Wohnfläche und von Dienstleistungen aufgezehrt oder überkompensiert […]. Teilweise wurden zudem Energieverbräuche in andere Lebensbereiche oder andere Länder verlagert.”3
Es kann daher gefolgert werden, dass die Effizienz- und die Konsistenzstrategie alleine nicht ausreichen, um die gesteckten energie- und umweltpolitischen Ziele im Verkehr zu erfüllen. Insbesondere der Existenz von Rebound-Effekten als Folge von Energieeffizienz-Steigerungen wird kaum Beachtung geschenkt. Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Form die Suffizienzstrategie einen Beitrag zur Verringerung der Energiebedarfe und zum Klimaschutz leisten kann.
Die Suffizenzstrategie im Verkehr – eine Einführung
Suffizienz stellt im Gegensatz zu den eher produktionsorientierten Effizienz- und Konsistenzstrategien den Konsumenten in den Mittelpunkt. Sie zielt auf ein verändertes Verhalten ab und sieht grundlegende und strukturelle Verhaltensänderungen als Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Die Frage nach “wie viel ist ausreichend” ist vergleichsweise unbeliebt und auch unbequem. In einer wachstumsorientierten Gesellschaft stellt die Frage nach der Suffizienz – oberflächlich betrachtet – sogar einen Widerspruch dar und zieht somit Widerstand nach sich.
Suffizienz wirft im internationalen Kontext und einer Debatte um die Verteilung von Ressourcen zwischen reichen Industrieländern und ärmeren Ländern im globalen Süden auch die Frage nach Gerechtigkeit und gerechter Verteilung auf. Mahatma Gandhi wies bereits darauf hin, dass die Welt genug für jedermanns Bedürfnisse habe – aber nicht für jedermanns Gier.
Die Anwendung einer Suffizienzstrategie bedeutet nicht die pauschale Einschränkung von Konsum, sondern kann durchaus auch selektiv wirken. Insbesondere die ressourcenintensiven Lebensbereiche westlicher Gesellschaften (Wohnen, Ernährung, Mobilität) bieten große Potenziale zur Anpassung von Lebensstilen. Die Verringerung der spezifischen Wohnflächenbedarfe durch kleinere Gebäude oder sich an den Lebensabschnitt anpassende Grundrisse, die signifikante Verringerung oder den Verzicht auf den Konsum tierischer Produkte (vor allem Fleisch und Fisch) und der Verzicht auf Flugreisen bzw. der Umstieg von motorisierten auf nicht-motorisierte Verkehrsmittel entfalten große Wirkung und haben zudem positive Auswirkungen auf die persönliche finanzielle wie auch gesundheitliche Situation (bspw. durch die verringerte Aufnahme tierischer Fette plus mehr Bewegung).
Insbesondere im Handlungsfeld Mobilität können zahlreiche Suffizienzmaßnahmen identifiziert werden. Dies ist auf die schon länger andauernde Diskussion im Verkehrssektor über ein „Vermeiden, Verlagern und Verbessern von Mobilität“ zurückzuführen.4
Für eine Reduktion der Energiebedarfe im Verkehr wird es laut Linz und Scherhorn (2011) “entscheidend darum gehen, den Übergang zu Verkehrsmitteln mit geringem Energiebedarf zu erleichtern, seien es Busse und Bahnen, sei es das Zufußgehen und Radfahren, seien es Fahrzeuge mit geringem CO2 -Ausstoß, die im Mittel kleiner und leichter sind als die jetzigen und deshalb auch die Umgewöhnung an Elektrofahrzeuge vorbereiten können. Erleichternd wirkt alles, was die bisherigen Privilegien zu hohen Energieverbrauchs wie das Dienstwagenprivileg und die Kerosinsteuerbefreiung abbaut, was den CO2 -Ausstoß progressiv verteuert wie eine entsprechende Umstellung der Kfz-Steuer, was die Attraktivität schwerer und schneller Fahrzeuge senkt wie das Tempolimit und was die Nachteile alternativer Verkehrsmittel reduziert, sei es durch die erwähnte Erhöhung der Taktfrequenz, durch Ausbau der Fahrradwege, dichte Verteilung von CarSharing- und Mietfahrradstationen u.v.a.
Bestärkend wirkt alles, was die Wählbarkeit klimaschädigender Verkehrsmittel einengt wie die Begrenzung des Flottenverbrauchs, und was den hohen Energieverbrauch (möglichst progressiv) verteuert wie die Ökosteuer, die Maut, die Abschaffung der Pendlerpauschale, und nicht zuletzt der Emissionshandel bei periodisch abgesenkter Obergrenze, dem Cap. Mit der Begrenzung verteuert der Emissionshandel die Kilowattstunde und regt mit der kontinuierlichen Nötigung zu mehr Energieeffizienz auch zur Verkleinerung der Gefährte und Geräte ein. Entscheidend ist hier, dass alle Unternehmen einbezogen werden (die gegenwärtig allein betroffenen Großunternehmen decken nur 40 Prozent der Emissionen ab), dass die Verschmutzungsrechte zur Gänze kostenpflichtig werden, und dass die Absenkung der Obergrenze nicht auf zu erwartende Einsprüche hin ermäßigt oder ausgesetzt wird.”5
Suffizienz orientierte Maßnahmen können beispielsweise sein:
Fußverkehr stärken
- Erweiterung des Fußwegeleitsystem / Wegeverbindungen schaffen
- Ausbau der Fußwege und von Fußgängerquerungen
- zu Fuß Gehenden mehr Raum geben
- Konsequentes Freihalten der Gehwege von Falschparkenden
- etc.
Radverkehr stärken
- Aus- und Neubau eines Radwegenetzes ohne Netzlücken
- hohe Qualität der Radverkehrsinfrastruktur sicherstellen
- sichere überdachte Radabstellanlagen in Wohnquartieren und Arbeitsorten sowie wichtigen Orten in der Stadt
- Bau von Fahrrad-Parkhäusern an Knotenpunkten, im Zentrum, etc.
- Verbesserung der (kostenfreien) Mitnahmemöglichkeiten von Fahrrädern im ÖPNV
- Fahrradfreundlicher Winterdienst für Hauptstrecken
- Scherbentelefon
- Mobiler Fahrradreparaturdienst
- Einführung / Ausbau eines öffentlichen Fahrradverleihsystems
- Radschnellwege und Hauptradrouten ggf. mit Priorisierung
- Ausbau Bike+Ride
- sichere Führung des Radverkehrs an Knotenpunkten mit sehr hoher Sichtbarkeit
- etc.
Öffentlichen Verkehr stärken
- Liniennetz ausweiten
- Taktung verbessern
- Bedienung in den Abend-, Nacht- und Randzeiten sowie am Wochenende verbessern
- Ausbau Park+Ride
- Optimierung der Verknüpfungen mehrerer Verkehrsarten
- Verbesserung von Knotenpunkten
- Verbesserung der Wege von und zur Haltestelle durch attraktive und sichere Gestaltung von Fußverkehrsinfrastruktur
- Barrierefreiheit flächendeckend sicherstellen
- einfache Tarifgestaltung und finanzielle Anreize für die Nutzung des ÖPNV
- Priorisierung öffentlicher Verkehrsmittel im Straßenverkehr
- Schaffung eines attraktiven Haltestellenumfelds
- Einsatz moderner Fahrzeuge mit freundlichem Fahrpersonal
- Busbeschleunigung durch Lichtsignalanlagenbeeinflussung
- etc.
Förderung des Carsharings (= reflexiver Konsum von Mobilitätsleistungen)
- Ersatz von Parkständen durch Carsharing-Stationen im öffentlichen Straßenraum
- Schaffung von Stellplätzen durch die Wohnungswirtschaft
- Enge Verknüpfung mit dem ÖPNV (baulich wie tariflich)
- Radabstellanlagen in der Nähe von Carsharing-Stationen
- Förderung betrieblicher oder kommunaler Carsharing-Angebote
- etc.
Motorisierten Individualverkehr verringern / klimafreundlicher machen
- flächendeckende Einführung von Tempo 30 im Stadtgebiet (zu den Vor- und Nachteilen sei dieser Artikel empfohlen)
- flächendeckende Parkraumbewirtschaftung
- Einführung autofreier Tage und Räume (z.B. Innenstadt)
- Umwandlung von Parkflächen in Fahrradabstellanlagen / Flächen für Straßenbegleitgrün
- Verlegung von Parkflächen in Parkhäuser / Tiefgaragen bei gleichzeitiger Wegnahme im Straßenraum
- Schaffung und Förderung von Mitfahrangeboten
- Autofreies Wohnen
- Fahrstreifen auf Richtlinienbreite zurückbauen und frei werdenden Raum dem Rad‐ und Fußverkehr zugänglich machen
- Einführung einer City-Maut
- Tausch des Pkw gegen Mobilitätskarte / kostenfreie ÖPNV-Nutzung
- Kosteninternalisierung beim Straßenverkehr durch Umwandeln von Steuer‐ auf Nutzerfinanzierung
- Verzicht des Aus- und Neubaus von Hauptverkehrsstraßen, etc.
- Förderung von Alternativen zum Kfz bzw. von Alternativantrieben (Fokus ländlicher Raum)
- etc.
Raum und Mobilität
- Vernetzung und Ausbau von Grün- und Freiflächen
- Aufwertung von Quartierszentren / Plätzen
- verstärkte Nutzungsmischung
- wo möglich Nachverdichtung (sollte im Sinne einer Innenentwicklung 2.0 jedoch nicht auf Kosten von Grün- und Freiflächen gehen)
- etc.
Güterverkehr
- lokale Stoffkreisläufe fördern
- Reparatur statt Wegwerfen und Neukauf fördern
- Regionalität und regionale Produkte stärken
- Transportintensität von Gütern verringern
- etc.
Suffizienzmaßnahmen im Verkehr sollten mit weiteren Maßnahmen in den Bereichen Wohnen, Energie, Konsum und Ernährung verbunden und gekoppelt werden. Eine gute Übersicht über mögliche Maßnahmen bieten hierzu Brischke et al. (2016)6
Um erfolgreich zu sein, sollten Suffizienzstrategien auf die systemischen Strukturen, in die das individuelle Verhalten eingebettet ist, fokussieren, statt sich (oft in Form eines Verzichtsappells) ausschließlich an den einzelnen Menschen zu wenden. Für eine gesellschaftliche Umsetzung bedarf es sowohl eines Kulturwandels wie auch eines Systemwandels, in welchem die Transformation vollzogen werden kann. Insbesondere in demokratischen Gesellschaften kann die eine Ebene nicht ohne die andere (und umgekehrt) funktionieren.
Suffizienz als notwendiger Baustein
Die Erzielung von Suffizienzeffekten im Mobilitätsbereich ist eine große Herausforderung, da nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung aus eigener Motivation zu einem suffizienten Mobilitätsverhalten bereit ist. Eine Laissez-faire-Strategie mit Vertrauen auf einen kulturellen Wandel in der Gesellschaft dürfte nicht ausreichend sein, vielmehr muss die Politik ihre Verantwortung wahrnehmen und Bürgerinnen und Bürger für eine Transformation gewinnen.
Korte (2015) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass politische Akteure “die Menschen […] in ihrer Rolle als Bürger_in und nicht als Konsument_in ansprechen [sollten], da sich die nachhaltige Entwicklung der Mobilität im öffentlichen Raum vollzieht und der Konsum als privater Raum geschützt bleiben soll. Als Bürger_innen tragen wir hingegen Mitverantwortung für die Transformation der Mobilität in unserer Umgebung und haben die Möglichkeit, auf kommunaler Ebene Maßnahmen mitzugestalten und die Macht durch Wahlen, Mitgestaltung und Eigeninitiative auf politische Entscheidungen einzuwirken und diese mitzutragen. Auch in der Rolle als Konsument_innen haben wir die Wahl, ob wir als Verkehrsmittel das Fahrrad wählen oder uns ein Auto kaufen. Dieser Bereich sollte jedoch von politischen Akteuren nicht primär angesprochen werden. Ein ökologisch korrekter Konsum, sofern dieser für den Einzelnen überhaupt abschätzbar ist, muss sich aus der Reflexion und Einsicht der Bürger_innen ergeben.”7
Suffizienz ist eng mit Kommunikation verbunden, ohne dabei in moralische Appelle und Katastrophismus zu verfallen. Vielmehr sollte die gemeinsame Verantwortung und Gestaltungsmacht der Bürger_innen und der politischen Akteure betont werden (ebd.).
Viele Suffizienzmaßnahmen im Bereich Mobilität werden bereits heute – oftmals unter anderer Bezeichnung – umgesetzt. Jedoch sind Vorhaben insbesondere mit dem Ziel einer Reduktion des motorisierten Individualverkehrs in der öffentlichen Diskussion stark umstritten. Eventuell könnten die Einordnung in einen größeren Kontext und die Erläuterung der dynamischen Zusammenhänge dabei helfen, Verständnis oder gar Unterstützung für ein Vorhaben zu erzeugen.
Fazit und persönliche Wertung
Die starke Umweltbelastung und hohen Energiebedarfe des Verkehrssektors sind deutlich zu senken. Die bislang verfolgten Effizienz- und Konsistenzstrategien zeigen bislang nur geringe Erfolge. Insbesondere vor der zeitlichen Komponente einer Einhaltung des 2° C-Ziels sowie einer weiter wachsenden Weltbevölkerung mit steigender Nachfrage nach Mobilität und Energie stellt sich die Frage, ob Effizienz- und Konsistenzstrategien alleine erfolgreich sein können. Die Suffizienzstrategie scheint als Ergänzung dringend notwendig zu sein. Diese Notwendigkeit dürfte im weiteren zeitlichen Verlauf wachsen, da Herausforderungen größer und Lösungen drängender werden.
Die Frage ist, ob und wie schnell individuelle Entscheidungen für eine persönliche Einschränkung getroffen werden. Statt ein Mehr an Mobilität und immer größere Interaktionsradien als Ziel zu verfolgen, ist vielmehr eine Antwort auf folgende Frage gefordert: Wie viel Mobilität ist genug?
Effizientere und klimafreundlichere Kraftfahrzeuge nehmen an Gewicht und in ihrer Zahl zu. Güter werden auf der steten Suche nach geringeren Personalkosten und niedrigeren Umweltstandards in der Produktion quer durch die Welt geschickt. Insbesondere der Straßengüterverkehr ist in den letzten Jahren stark gewachsen und soll – als Ziel des Bundesverkehrsministeriums – weiterhin wachsen.
Gleiches gilt für den Luftverkehr. Billigflüge und mehr Freizeit lassen die Nachfrage nach kurzen Städtetrips und damit die klimaschädlichen Emissionen des Luftverkehrs wachsen. All dies geschieht mit dem Segen der Politik. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) äußerte sich bspw. bei der Vorstellung des Luftverkehrskonzepts des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur aus dem Jahr 2017 wie folgt: „Fliegernationen sind Wohlstandsnationen. Der Luftverkehr ist Garant für Mobilität, Wachstum und Beschäftigung.”
Die Verfolgung einer Suffizienzstrategie bedeutet auch, heilige Kühe zu schlachten. Eine weitere Förderung des Luftverkehrs, ein Ausbau des Straßen- und Schienennetzes mit dem Ziel der Beschleunigung wie auch die Aufrechterhaltung der steuerlichen Begünstigung von Dienstwagen und Dieselkraftstoff laufen den gesteckten Zielen zuwider.
Damit sich Bürgerinnen und Bürger wie auch die Politik freiwillig und aus innerer Motivation heraus beschränken, ist es notwendig, diesen Wandel positiv zu besetzen und als politische wie auch gesamtgesellschaftliche Aufgabe eine positive gesellschaftliche Utopie im Mobilitätsbereich zu formulieren. Anderenfalls dürften die Widerstände kaum zu überkommen sein.
Wie lässt sich das Thema positiv besetzen? Wie könnte ein entsprechendes gesellschaftliches Bild aussehen? Wie lässt sich der Suffizienzgedanke in der Bürgerschaft verankern? Diskutieren Sie mit. Entweder im Kommentarbereich direkt unter diesem Artikel oder direkt im Zukunft Mobilität-Forum.
Quellen
- Energiekonzept der Bundesregierung für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung vom 28. September 2010 – https://www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/_Anlagen/2012/02/energiekonzept-final.pdf?__blob=publicationFile&v=5 ↩
- Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass es keine Zustandsänderung gibt, deren einziges Ergebnis die Übertragung von Wärme von einem Körper niederer auf einen Körper höherer Temperatur ist. Energie kann nicht von einem kalten niederenergetischen Reservoir auf ein warmes hochenergetisches Reservoir übertragen werden, ohne selbst etwas zu verändern. Mit anderen Worten: Energie wird nie automatisch vom Kalten ins Warme übertragen. Wärmeenergie fließt von selbst immer nur vom wärmeren zum kälteren Körper, nie jedoch umgekehrt.
Es ist daher nicht möglich, eine periodisch arbeitende Maschine zu bauen, deren einzige Wirkung darin besteht, einem Reservoir Wärme zu entziehen und diese komplett in mechanische Arbeit zu verwandeln. Ein Beispiel: Bei einer Dampfmaschine wird Energie aus einem warmen Reservoir (Kessel) entzogen und in mechanische Arbeit umgewandelt, dem warmen Reservoir muss jedoch stets neue Wärmeenergie zugeführt werden, indem wir den Kessel heizen. Es gibt auch keine Wärmekraftmaschine, die bei gegebenen mittleren Temperaturen der Wärmezufuhr und Wärmeabfuhr einen höheren Wirkungsgrad hat als den aus diesen Temperaturen gebildeten Carnot-Wirkungsgrad. Man kann folglich weiter formulieren, dass alle irreversiblen Wärme-Kraft-Prozesse einen geringeren Wirkungsgrad haben. Mit anderen Worten: man wird nie exakt die Energie aus einem Prozess herausziehen können, die man hineingesteckt hat. ↩
- Brischke, Lars‐Arvid; Leuser, Leon; Thomas, Stefan; Spitzner, Meike; Thema, Johannes; Ekardt, Felix; Kopatz, Michael; Duscha, Markus (2015): Energiesuffizienz –Strategien und Instrumente für eine technische, systemische und kulturelle Transformation zur nachhaltigen Begrenzung des Energiebedarfs im Konsumfeld Bauen / Wohnen. Heidelberg / Wuppertal / Berlin. https://energiesuffizienz.files.wordpress.com/2015/05/energiesuffizienz_rahmenanalyse_endfassung.pdf ↩
- Duscha, Markus (2016): Suffizienz in Kommunen durch Infrastrukturen und Dienstleistungen. In: Energiesuffizienz – Strategien und Instrumente für eine technische, systemische und kulturelle Transformation zur nachhaltigen Begrenzung des Energiebedarfs im Konsumfeld Bauen / Wohnen. Heidelberg / Berlin / Wuppertal 2016. S. 45 – https://energiesuffizienz.files.wordpress.com/2016/12/energiesuffizienz_endbericht.pdf ↩
- Linz, M.; Scherhorn, G. (2011): Für eine Politik der Energie-Suffizienz: Impulse für die politische Debatte. Impulse zur WachstumsWende, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie 1, S. 10 – https://www.econstor.eu/handle/10419/59298 ↩
- Brischke, L.; Leuser, L.; Thomas, S.; Thema, J.; Kopatz, M.; Spitzner, M.; Baedeker, C.; Lahusen, M.; Ekardt, F.; Beeh, M. (2016): Energiesuffizienz – Strategien und Instrumente für eine technische, systemische und kulturelle Transformation zur nachhaltigen Begrenzung des Energiebedarfs im Konsumfeld Bauen / Wohnen. Endbericht. Heidelberg, Berlin, Wuppertal, Dezember 2016 – https://energiesuffizienz.files.wordpress.com/2016/12/energiesuffizienz_endbericht.pdf ↩
- Korte, F. (2015): Suffiziente Mobilität im urbanen Raum – Ansätze und Maßnahmen. IZT Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gGmbH (Hrsg.): IZT-Text 2-2015. Berlin 2015, S. 37 ↩
Ich bin jetzt nochmal auf diesen (guten) Artikel gestoßen.
Was mich wundert ist die fehlende Explikation des Widerspruchs von Rad-Separationsnetz und induzierten Autoverkehren:
“Ein ähnlicher Effekt entsteht bei der Durchführung von Anti-Stauprogrammen oder dem Ausbau von Straßen. Etwaige Zeitgewinne werden innerhalb weniger Monate oder Jahre durch eine Ausweitung der Fahrleistung kompensiert”
Das ist natürlich richtig, aber genau dieser anti-congestion Effekt tritt ja auf, wenn die ökologisch relativ unbedeutenden MIV-Kurzstrecken in und um die städtischen Kerne herum auf ein separates Radverkehrsnetz verlagert werden.
Insbesondere bei den ‘Flaschenhälsen’ – welche ja i.d.R. nicht auf freier Strecke auftreten, sondern im Übergangsbereich von Suburb/Umland und den Kernstädten – kann der separierte Radverkehr als anti-congestion wirken und im Grunde ähnliche Wirkungen entfalten wie die üblichen Spurerweiterungen.
Ferner kann durch Separation des Radverkehrs eine weitere Erhöhung der MIV bezogenen Leistungsfähigkeit von Knotenpunkten ermöglicht werden (siehe die MIV Kapazitätserweiterung beim Hoventring).
Das ‘Übersehen dieser Reboundeffekte’, deren Nichtbeachtung ja im Artikel zu Recht kritisiert wird, findet im Hinblick auf die Separation des Radverkehrs insofern statt, als die MIV induzierenden Wirkungen komplett unterschlagen werden.
Das ist schade, auch weil so auch die Einordnung von empirischen Befunden der Geschichte der Radverkehrsförderung (z.B. Steigerung der Autoverkehrsleistung in NL parallel zum ansteigenden Radverkehrs-‘anteil’) nicht – im Sinne einer differenzierten Folgenabschätzung verbessert werden kann, und vor allem die Entwicklung von Kriterien zur Unterscheidung von Massnahmepaketen im Hinblich auf ‘Autogerechtigkeit’ vs. ‘Umweltgerechtigkeit’ nicht vorangebracht wird.
Zur Verdeutlichung:
die Situation in Münster ist Dir ja zumindest ansatzweise vertraut. Hier lässt sich gut beobachten, wie die durch separationsbasierte Radverkehrsförderung freigeschaufelten Fahrbahnkapazitäten von immer mehr auswärtigem Autoverkehr genutzt wird.
Die Fahrbahnkapazitäten werden nach wie vor ausgelastet, nur haben in der Gesamtbetrachtung die Streckenlängen pro MIV-Fahrt (Gesamtverkehr, nicht Einwohnerverkehr) in den letzten Jahren derart zugenommen, dass – ganz im Sinne eines Reboundeffektes – die Verkehrsleistung/Fahrleistung in der Region ansteigt. Steht ja auch gut in Übereinstimmung mit den Implikationen des konstanten Reisezeitbudgets.
Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist die verkehrsinduzierende Wirkung einer ggf. autogerechten Radverkehrsförderung so umfänglich auszuklammern, wie es derzeit geschieht, schliesslich brauchen wir in Zeiten eines immer fataler werdenen Klimawandels dringend eine halbwegs treffsichere Folgenabschätzung von Massnahmepaketen auch bei der boomenden sogenannten ‘Radverkehrsförderung’ auf den Gesamtverkehr bzw. auf die CO2 Emissionen, sonst schlittern wir wieder – wie schon beim Biosprit – offenen Auges und schweigenden Mundes in einen Reboundeffekt, den wir uns eigentlich nicht mehr leisten können.
Es gälte genauer zu betrachten unter welchen Bedingungen der Zauberlehrlingseffekt zu erwarten ist, und wo die gegenwärtigen Separationsrezepte von Radverkehrsförderung relativ unschädlich sind bzw. positiv wirken.
Zu differenzieren wäre dabei u.a. zwischen wachsenden Metropolregionen bzw. boomenden Oberzentren und anderseits Schrumpfregionen bzw. ländlichen Räumen abseits der Suburbs, sowie zwischen Maßnahmepaketen, die zum ‘push-pull-Reisezeitshift’ führen und andererseits Maßnahmen, die zur Ausweitung der MIV Erreichbarkeitsradien führen, etc.
Den Aufbau eines Radseparationsnetzes mit freien Autofahrbahnen (die u.U. auch noch den Weg zu ausuferndem autonomen MIV mit exklusiven Autofahrbahnen ebnen) kurzerhand mal in die Positivliste zu setzen ist m.E. zu undifferenziert.
Das kann in der realen Welt noch arg nach hinten losgehen, wenn man sich z.B. das Potential des Berliner MIV- Umlandverkehrs ansieht, der dann durch verlagerte Binnen-Kurzstreckenverkehre ‘freie Bahn’ erhält und so Verkehrsleistung und Zersiedelung weiter vorantreibt.
Hallo Alfons,
es stimmt, dass ich diesen Schluss nicht eindeutig gezogen bzw. den Wirkungszusammenhang nicht klar herausgestellt habe. Es ist vollkommen richtig, dass eine vollständige Trennung von Radverkehr und MIV die jeweiligen maximal fahrbaren Geschwindigkeiten erhöhen könnte. Dies natürlich immer unter den Restriktionen, die die Geometrie vorgibt. Zudem hängt die Entstehung dieses Effekts stark vom Radverkehrsaufkommen ab. Theoretisch sind die Reisezeitgewinne ja marginal (wenige Sekunden), wenn das Radverkehrsaufkommen vor der Separation gering war und bei Pkw-Fahrten keine bzw. nur minimale Fahrzeitverluste durch langsamere Verkehrsteilnehmer bzw. mangelnde sichere Überholmöglichkeiten angefallen sind. In Städten wie Münster gilt dieses Argument aber natürlich nicht, hier ermöglicht die Verbannung des Radverkehrs auf Hochbordradwege sicherlich höhere Fahrgeschwindigkeiten des MIV. TransitPlanner hatte es in seinem Kommentar zu diesem Artikel mit Münsterbezug wie folgt beschrieben:
“Vielleicht sollte sich das die Politik bewusst machen, dass Verkehrsplanung für den Autoverkehr die Umlandbewohner bevorzugt und die Münsteraner benachteiligt.”
https://www.zukunft-mobilitaet.net/167600/analyse/was-ist-der-modal-split-grenzen-verkehrsmittelwahl-einschraenkungen-wege-verkehrsleistung/#comment-42400
Ich selber hatte in diesem Artikel geschrieben:
“Ein wachsender Anteil des Radverkehrs am Wege-Modal Split muss nicht zwingend bedeuten, dass die positiven Effekte des Radverkehrs auch in entsprechender Größenordnung realisiert werden. Im Rahmen der Förderung des Radverkehrs sollte daher nicht nur dazu animiert werden, mehr Wege mit dem Rad zurückzulegen, sondern auch die Voraussetzungen zu schaffen, die üblicherweise in einem Bereich von vier bis sieben Kilometern liegende Grenze des Reisezeitvorteils des Fahrrads gegenüber dem MIV zu verschieben. Dies bedeutet, dass neben “Komfortführungen” des Radverkehrs über das Nebenstraßennetz auch schnelle und sichere Radfahrten bspw. entlang von Hauptstraßen möglich sein sollten.”
Darin liegt meiner Meinung nach auch das Geheimnis: kommt es an Abschnitten, die eine hohe Geschwindigkeit zulassen (sprich: Hauptstraßennetz), zu einer Trennung von MIV und Radverkehr, ist sicherzustellen, dass keine Fahrzeitgewinne für den MIV entstehen. Es geht wie gesagt nicht nur um die Anzahl der Wege bzw. den Anteil der einzelnen Verkehrsarten, sondern eben auch um die entsprechende Reisezeit. Nimmt man das mit in die Diskussion auf, differenziert man am Ende nicht über Raumeinheiten auf höherer Ebene (Oberzentrum, Mittel- / Unterzentrum), sondern auf kleiner Ebene über die Funktion einer Straße für die einzelnen Verkehrsarten (und natürlich auch über die Funktion als öffentlicher Raum).
Viele Grüße
Martin
Kleine Randbemerkung:
die beiden Grafiken des UBA bezügl. der Feinstaubemissionen vermitteln ein falsches Bild. Zugrundegelegt wurde dabei lediglich die Masse der Feinstäube. In Bezug auf die Auswirkungen ergibt das ein stark verzeichnetes Bild, da nicht das Gesamtgewicht, sondern die Anzahl und insbesondere die Kleinheit der Feinstäube bzw. Ultra-Feinstäube die Gefährlichkeit ausmacht.
Würde dies berücksichtigt sähe die Grafik deutlich anders aus. Hier ist im Zeitverlauf leider eine Verstärkung der Prolematik zu konstatieren, und nicht etwa eine Besserung.
Man kann sogar weitergehen und bspw. noch auf die Kanzerogenität von Partikeln eingehen. Feinster Dieselruß und feinste Salzpartikel am Meer sind beides Feinstäube mit unterschiedlicher Wirkung im Atemtrakt: die einen verursachen Krebs [1] [2] [3], die anderen sollen das Atmen erleichtern (an dieser Stelle sei angemerkt, dass hierfür der wissenschaftliche Beweis fehlt. Bei einer kurzen Suche viel Hokuspokus und wenige belastbare wissenschaftliche Studien gefunden [4]. Die Kanzerogenität von Dieselpartikeln ist jedoch belegt und wird durch die Internationale Agentur für Krebsforschung (Teil der WHO) auch entsprechend eingeordnet. [5]) Leider wird heute nicht differenziert erhoben und somit auch nicht ausgewiesen.
Die Anmerkungen hinsichtlich Größe und Anzahl sind aber genauso richtig. Leider lassen uns auch in diesem Bereich offizielle Statistiken im Unklaren. [5]
[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5352477/
[2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4894930/
[3] Vortrag zum Thema: http://www.cancer.org.au/health-professionals/know-cancer-risks-at-work/health-impacts-of-particulate-matter-in-diesel-emissions.html
[4] http://www.lung.org/about-us/blog/2016/06/promising-placebo-salt-halotherapy.html
[5] https://www.iarc.fr/en/media-centre/pr/2012/pdfs/pr213_E.pdf
[6] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21232585/
OMG, er hat das S-Wort gesagt – NEIN, sogar GESCHRIEBEN! Klasse Artikel Martin, war längst überfällig!
Wie völlig wirkungsfrei die Effizienzstrategie im Verkehrssektor ist, wird mir schön von den aktuellen vdi-nachrichten beantwortet, in der über den Fiat 500 berichtet wird. Was hat ein Familienauto vor 60 Jahren verbraucht? 4,5l/100km! (Der aktuelle Smart fortwo schafft das auf dem Papier, der forfour aber schon nicht mehr)
Dann hab ich noch ein paar Kritikpunkte:
Du sprichst von Flächendeckendem Tempo 30 – gefordert wird aber zumeist Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit.
Bei Emissionshandel sprichst du einmal davon, dass alle Emissionen kostenpflichtig sein sollen und einmal davon, dass die Kosten Progressiv sein sollen. Ja wie denn nun? Ich bin bei der CO2-bepreisung unentschlossen: Ein hoher Grundpreis für alle Emissionen kann mehr Geldmittel freisetzen und im Sinne von http://umsteuern-mit-energiesteuern.de/ wirken und beim Import leichter berechnet werden. Eine progressive Bepreisung kann höhere Lenkungswirkung bewirken, wenn Sie richtig ausgestaltet ist. Momentan hat man das schlechteste aus beiden Welten kombiniert: Es werden so viele Zertifikate verschenkt, dass fast keine gekauft werden müssen, und der (progressive) Preis ist so niedrig, dass keinerlei positive Lenkungswirkung erzielt wird…
Das ist zunächst auf die Regelgeschwindigkeit bezogen. Ich bin durchaus der Meinung, dass zur Bündelung der Verkehrsströme – insbesondere zur Lärmminderung – in einem Hauptstraßennetz weiterhin höhere Geschwindigkeiten zulässig sein sollten. In Wohngebieten und in entsprechenden sensiblen Bereichen sollte die Geschwindigkeit auf maximal 30 km/h begrenzt werden. Wobei ich auch hier teilweise noch weiter gehen und für die Einrichtung verkehrsberuhigter Bereiche (Schrittgeschwindigkeit!) plädieren würde. Bei entsprechender Durchsetzung könnte man auch bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h eine Bündelungswirkung erreichen. Pauschale Aussagen sind hier aber schwierig, da muss man auch die lokalen Gegebenheiten im Blick behalten.
Es stellt sich aber auf jeden Fall die Frage, welche Geschwindigkeiten nicht nur vor dem Hintergrund von Verkehrssicherheit und Schadstoffminimierung, sondern auch hinsichtlich Suffizienz und Minimierung der Energiebedarfe sinnvoll sind.
Die Forderung nach einer progressiven CO2-Bepreisung im Artikel kommt von Linz und Scherhorn (2011). Die Idee von grundsätzlich kostenpflichtigen Emissionen zur Internalisierung externer Kosten und einem progressiven Anstieg derselben zur Lenkungswirkung schließt sich ja nicht aus. Würde man die Anfangszertifikate versteigern und nicht unentgeltlich abgeben, eine absolute Zertifikate-Obergrenze und einen Mindestpreis (= Preiskorridor) haben und die Versteigerungserlöse hälftig wieder den Verbrauchern zur Dämpfung der Preissteigerung zukommen lassen (die andere Hälfte wird entsprechend des Verursacherprinzips in vom Klimawandel betroffenen Ländern zur Klimawandelanpassung u.ä. investiert), könnte man eine progressive Komponente einbauen. Hierfür müsste die Rückerstattung auf Pro-Kopf-Basis erfolgen, d.h. Konsumenten / Bürger mit kleinem CO2-Fußabdruck müssten mehr Erstattung erhalten als sie letztlich Mehrkosten durch die CO2-Zertifikate haben, Konsumenten / Bürger mit großem Fußabdruck haben die entsprechenden Mehrkosten und somit einen Anreiz zur Reduktion.
Ein solcher Mechanismus könnte theoretisch funktionieren. Für eine fundiertere oder gar endgültige Antwort habe ich mich mit diesem komplexen Thema aber bislang zu wenig beschäftigt…
Viele Grüße,
Martin
Am einfachsten lassen sich Menschen zu suffizientem Fahrverhalten überreden wenn das alternative Verkehrsmittel günstiger und schneller ist und Spaß macht! In meinem Berliner Freundeskreis ist momentan e-Roller-Sharing noch beliebter als Car-Sharing, weil es mehr Spaß macht, günstiger ist und schneller (keine Parkplatzsuche). Eine andere Idee könnte sein, das Probefahren von e-Bikes zu subventionieren (zB über Schaufenster Elektromobilität?), denn wer einmal auf einem drauf saß, ist davon begeistert. Und natürlich hängt wieder alles mit allem zusammen, denn so ein e-Bike will man dann geschützt unterstellen können etc