Eine Aufstellung der europäischen Städte mit dem höchsten Radverkehrsanteil an den zurückgelegten Wegen zeigt recht schnell ein eindimensionales Bild. Unter den Top 10 finden sich alleine sechs niederländische Städte, die beiden deutschen Radverkehrsstädte schlechthin, Münster und Oldenburg sowie die dänische Hauptstadt Kopenhagen. Ebenso liegt Bozen in Südtirol auf einem europaweit neunten Platz ebenfalls in der Spitzengruppe.
Neben der entsprechenden Infrastruktur spielen ebenfalls strukturelle und gesellschaftliche Faktoren eine gewisse Rolle. Neben der Schaffung durchgängiger Radverkehrsnetze und Abstellanlagen hat beispielsweise Bozen mehrere Initiativen und Veranstaltungen (BimbinBici, Bozen Bike, Bicicaffé) durchgeführt und in Schulen sowie bei Arbeitgebern wie Arbeitnehmern für das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel geworben.
In der allgemeinen Wahrnehmung sind insbesondere niederländische, dänische aber auch deutsche Städte radverkehrsfreundlich. Ebenso scheint in Städten mit einem hohen Studierendenanteil an der Gesamtbevölkerung eine überproportionale Nutzung des Fahrrades als günstige, ökologisch verträgliche und schnelle Verkehrsart zu existieren. Die Länge der zurückzulegenden Wege spielt in der Verkehrsmittelwahl ebenfalls eine Rolle, da für jede Verkehrsart eine gewisse Streckenlänge bzw. Bandbreite von Entfernungen ideal ist. Es ist daher zu klären, ob ein Zusammenhang zwischen Stadtgröße (Fläche und Einwohnerzahl) und Radverkehrsanteil am Modal Split sowie Anteil der Studierenden an der Gesamtbevölkerung und dem Radverkehrsanteil zu erkennen ist.
Sind europäische Fahrradstädte meistens mittelgroß?
Ein Vergleich der betrachteten Städte zeigt, dass ein Großteil der Städte mit einem Radverkehrsanteil von 20-30 Prozent am Gesamtverkehrsaufkommen zwischen 100.000 – 300.000 Einwohnern aufweist. Einige kleinere niederländische Städte besitzen einen noch größeren Radverkehrsanteil, während die meisten Großstädte ab 500.000 Einwohnern in der Mehrheit einen Anteil von maximal 20 Prozent aufweisen (Ausreißer: Amsterdam, Bremen und Kopenhagen).
Da Großstädte sehr häufig eine hohe Bevölkerungsdichte und somit ein effektives und gut ausgebautes öffentliches Verkehrsangebot besitzen, liegt der Radverkehrsanteil hier meistens geringer. Dies zeigt sich beispielsweise anhand der Schweizer Städte Bern und Zürich sowie der französischen Hauptstadt Paris.
Einwohnerzahl | x | xm | S² | S | |
---|---|---|---|---|---|
k=1 | < 50.000 | 5 | 26% | 1,17 | 10,83 |
k=2 | 50.000 - 300.000 | 35 | 25% | 0,42 | 6,49 |
k=3 | > 300.000 | 22 | 14% | 0,82 | 9,05 |
In größeren Städten sind aufgrund der Stadtstruktur weitere Entfernungen zurückzulegen. Klassische Fahrradstädte weisen oftmals einen verdichteten Stadtkern und einen Durchmesser von bis zu zehn Kilometern aus. Da diese Werte nicht flächendeckend zur Verfügung standen, musste ich hilfsweise die Stadtfläche betrachten. Mir ist bewusst, dass diese Bezugsgröße schwierig ist, da die Fläche einer Stadt oftmals nicht nur die bebauten Flächen der Stadt umfasst, sondern ebenfalls große Stadtparks oder eingemeindete Gemeinden im Umland einschließen kann.
Fläche (km²) | x | xm | S² | S | |
---|---|---|---|---|---|
k=1 | < 100 | 21 | 25% | 0,65 | 8,09 |
k=2 | 100 - 250 | 35 | 20% | 0,9 | 9,49 |
k=3 | > 250 | 16 | 18% | 0,91 | 9,53 |
Es zeigt sich, dass die Stadtfläche auf den Radverkehrsanteil keinen großen Einfluss zu haben scheint. Dies kann zum einen an der Schwäche der Bezugsgröße und zum anderen an den Wegebeziehungen innerhalb von größeren Städten liegen. Der Aktionsradius eines einzelnen Einwohners ist auch in größeren Städten beschränkt, es bilden sich mehrere Einzelzentren. Hohe Anteile des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen können somit sowohl in kleinen wie auch in großen Städten auftreten.
Studentenstadt = Fahrradstadt?
Münster, Groningen, Göttingen und Lund mit einem Sechstel bis zu einem Fünftel Studierender an der Gesamtbevölkerung gelten als klassische Fahrradstädte. Studenten neigen aufgrund von Einkommensrestriktionen und ihres sozialen Umfelds zur Wahl preiswerter und ökologisch verträglicher Verkehrsmittel. Das Entstehen hoher Radverkehrsanteile aufgrund eines hohen Studierendenanteils erscheint daher naheliegend.
Ein hoher Radverkehrsanteil hängt nicht mit dem Studierendenanteil an der Gesamtbevölkerung zusammen. Auch Städte ohne Hochschule können Radverkehrsanteile von 15 – 30 Prozent aufweisen. Entsprechende Häufungen sind nicht erkennbar. Man kann also konstatieren, dass Städte mit hohem Studierendenanteil radaffin sind, dies aber keine Bedingung für einen hohen Anteil des Fahrrads am Modal Split ist. Das Fahrrad ist vielmehr gesamtgesellschaftliches Verkehrsmittel, das von Jung und Alt gleichermaßen genutzt wird.
Studierenderanteil an der Bevölkerung | x | xm | S² | S | |
---|---|---|---|---|---|
k=1 | 0% | 7 | 27% | 0,66 | 8,12 |
k=2 | 0,1 - 10% | 8 | 21% | 0,76 | 8,74 |
k=3 | 10 - 20% | 26 | 18% | 1,03 | 10,14 |
k=4 | > 20% | 9 | 24% | 0,39 | 6,2 |
Fazit
Den klassischen Typ einer Fahrradstadt gibt es nicht. Sowohl kleine wie auch große Städte können hohe Radverkehrsanteile aufweisen. Des Weiteren spielt die Existenz einer Hochschule und eine Vielzahl von Studierenden keine herausragende Rolle. Kein Bewohner oder gar die Verwaltung einer Stadt sollten daher behaupten, dass ihre Stadt nicht für das Fahrrad geschaffen sei. Auch topografisch anspruchsvolle Städte können durch die Elektrifizierung des Radverkehrs wachsende Radverkehrsanteile aufweisen, auch wenn man die Werte klassischer “Fahrradstädte” kaum erreichen können wird. Bestimmte Bevölkerungsschichten sind keineswegs für viel Radverkehr erforderlich.
Unter der Annahme, dass eine Stadt mit einem Radverkehrsanteil von mindestens 25 Prozent eine “Fahrradstadt” ist, muss festgestellt werden, dass niederländische Städte in der betreffenden Klasse (n = 25) mit zehn Städten überproportional vertreten sind (40 %). Auf Platz 2 folgt Deutschland mit sechs Städten von 25 und stellt immerhin unter der Annahme eines minimalen Radverkehrsanteils von 25% 24% der europäischen Fahrradstädte. Die klassische europäische Fahrradstadt ist somit mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Niederlanden, und mit Abstrichen in Deutschland, zu finden.
Niederländische Städte profitieren heutzutage von ihrer Voraussicht und den Investitionen in den vergangenen Jahrzehnten. Viele Städte in anderen Ländern hängen mehrere Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, hinter ihren niederländischen Pendants hinterher. Dies sollte jedoch Ansporn sein, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um die Lebensqualität der Bevölkerung zu erhöhen und qualitativ hochwertige Alternativen zum motorisierten Individualverkehr zu schaffen.
Der Mythos, dass vor allem mittelgroße Universitätsstädte Fahrradstädte seien, mag zwar stimmen. Allerdings sollte an dieser Stelle – wie so oft – Korrelation und Kausalität nicht miteinander verwechselt werden. Denn jede Stadt kann eine Fahrradstadt sein. Sie muss nur wollen.
Daten
Stadt | Radverkehrsanteil | Einwohner | Fläche (km²) | Studentenanteil an der Bevölkerung |
---|---|---|---|---|
Houten (NL) | 44 Prozent | 48.416 | 55,49 km² | - |
Oldenburg (D) | 43 Prozent | 157.706 | 102,96 km² | 8,9% |
Münster (D) | 38 Prozent | 293.393 | 302,95 km² | 15,36% |
Kopenhagen (DK) | 35 Prozent | 559.440 | 74,70 km² | 15,84% |
Leiden (NL) | 33 Prozent | 119.746 | 23,16 km² | 16,7% |
Groningen (NL) | 31 Prozent | 195.405 | 83,69 km² | 25% |
Amsterdam (NL) | 30 Prozent | 799.345 | 219 km² | 6,26% |
Zwolle (NL) | 30 Prozent | 122.486 | 119,28 km² | 24,6% |
Bozen (I) | 29 Prozent | 104.841 | 52,3 km² | 5% |
Apeldoorn (NL) | 28 Prozent | 157.282 | 341,13 km² | - |
Amersfoort (NL) | 28 Prozent | 149.681 | 63,85 km² | - |
Örebro (SWE) | 28 Prozent | 107.038 | 49,27 km² | 7,48% |
Uppsala (SWE) | 28 Prozent | 202.625 | 48,77 km² | 10,2% |
Ferrara (I) | 27 Prozent | 135.444 | 404 km² | 8,9% |
Freiburg im Breisgau (D) | 27 Prozent | 214.234 | 153,07 km² | 14,02% |
Cambridge (UK) | 27 Prozent | 122.700 | 115,65 km² | 17,31% |
Odense (DK) | 27 Prozent | 170.327 | 304.34 km² | 7,35% |
Göttingen (D) | 27 Prozent | 116.052 | 116,89 km² | 20% |
Lund (SWE) | 26 Prozent | 82.800 | 25,75 km² | 42,4% |
Haarlem (NL) | 26 Prozent | 153.123 | 32,11 km² | - |
Enschede (NL) | 26 Prozent | 158.639 | 142,75 km² | 27,8% |
Brügge (BEL) | 25 Prozent | 117.170 | 138,4 km² | 5,38% |
Bremen (D) | 25 Prozent | 544.043 | 325,42 km² | 5,5% |
Heidelberg (D) | 25 Prozent | 148.415 | 108,83 km² | 20% |
Zaanstad (NL) | 25 Prozent | 149.561 | 83,04 km² | - |
Nijmegen (NL) | 24 Prozent | 166.369 | 57,53 km² | 19,88% |
Innsbruck (A) | 23 Prozent | 121.329 | 104,91 km² | 24,8% |
Eindhoven (NL) | 23 Prozent | 218.456 | 88,84 km² | 9,6% |
Tilburg (NL) | 23 Prozent | 208.470 | 118,88 km² | 6,73% |
Antwerpen (BEL) | 23 Prozent | 502.604 | 204,51 km² | 7,03% |
Malmö (SWE) | 23 Prozent | 302.835 | 69,3 km² | 5% |
Cottbus (D) | 22 Prozent | 99.913 | 164,28 km² | 6,9% |
Oulu (FIN) | 21 Prozent | 190.927 | 449,2 km² | 13,62% |
Vantaa (FIN) | 21 Prozent | 205.275 | 240,36 km² | - |
Kiel (D) | 21 Prozent | 239.866 | 118,6 km² | 13,07% |
Utrecht (NL) | 21 Prozent | 321.989 | 99,32 km² | 22,46% |
Rostock (D) | 20 Prozent | 202.887 | 181,28 km² | 7,69% |
Basel (CH) | 20 Prozent | 172.662 | 22.75 km² | 14,34% |
Bregenz (A) | 19 Prozent | 28.203 | 29,78 km² | - |
Graz (A) | 17-19 Prozent | 265.778 | 127,56 km² | 16,97% |
Salzburg (A) | 17-19 Prozent | 145.871 | 65,64 km² | 12,45% |
Parma (I) | 19 Prozent | 177.714 | 260 km² | 14,40% |
München (D) | 17 Prozent | 1.388.308 | 310,71 km² | 7,48% |
Klagenfurt (A) | 17 Prozent | 95.450 | 120,03 km² | 11,33% |
Dresden (D) | 16 Prozent | 525.105 | 328,31 km² | 8,63% |
Rotterdam (NL) | 16 Prozent | 615.726 | 304,24 km² | 7,29% |
Straßburg (F) | 15 Prozent | 271.782 | 78,26 km² | 15,45% |
Frankfurt am Main (D) | 14 Prozent | 687.775 | 248,31 km² | 8,59% |
Bristol (UK) | 14 Prozent | 432.451 | 110,0 km² | 11,37% |
Berlin (D) | 13 Prozent | 3.375.222 | 891,85 km² | 4,74% |
Hamburg (D) | 12 Prozent | 1.742.707 | 755,26 km² | 4,30% |
Bern (CH) | 11 Prozent | 137.937 | 51,60 km² | 18,47% |
Ljubljana (SLO) | 10 Prozent | 278.638 | 275 km² | 23,18% |
Dublin (IR) | 8 Prozent | 525.383 | 115 km² | 16,72% |
Zürich (CH) | 8 Prozent | 396.389 | 91,88 km² | 16,74% |
Helsinki (FIN) | 7 Prozent | 604.380 | 213,66 km² | 13,73% |
Wien (A) | 6 Prozent | 1.754.134 | 414,87 km² | 10,56% |
Brüssel (BEL) | 5 Prozent | 1.160.478 | 161,4 km² | 3,27% |
Oslo (NOR) | 5 Prozent | 626.953 | 454 km² | 10,31% |
Tallinn (Estland) | 4 Prozent | 417.150 | 159,2 km² | 5,74% |
Breslau (POL) | 4 Prozent | 631.188 | 293,00 km² | 15,87% |
Paris (F) | 3 Prozent | 2.243.833 | 105,40 km² | 13,37% |
Ich vermisse in dieser Auflistung Erlangen, sieht sich selbige doch spätestens seit Oberbürgermeister Hahlweg (70er bis 1996) als Fahrradstadt und hat derzeit einen Oberbürgermeister, der sich prächtig mit dem lokalen ADFC versteht
Von wann sind denn die Zahlen? Groningen hatte bereits 2003 einen Fahrradanteil von 38 % und laut anderen Quellen 2013 einen Fahrradanteil von 37 %. Wo sind diese 6%, die fehlen hier in den Daten verschwunden. Außerdem fehlen in dem Ranking andere niederländische Städte, wie z. B. Ede (32%) oder Veenendaal (32%)
Soweit ich weiß sind daszahlen von 2008. Zumindest bezüglich der Daten zu Hamburg und Rotterdam. Bitte Update :D
Yannick! :D
Die Werte gehen teilweise kunterbunt durcheinander, das stimmt. Hätte ich entsprechend vermerken sollen. Mittlerweile würde ich eine derartige Analyse aber auch nicht mehr machen, da der Modal Split als Indikator diverse Schwächen hat.
Lieben Gruß
Martin
Vielen Dank für den Artikel!
Das ist wirklich ein unschönes Phänomen geworden ,dass sich Städte und Gemeinden aus der Fahrradförderung herauswinden, weil es ja angeblich ganz spezifische sine-qua-non Bedingungen dafür bräuchte.
Als zugereister Münsteraner empfinde ich eine starke Diskrepanz zwischen den beständig kommunizierten modal-Split-Werten (Einwohner modal-split qua Telefonbefragung) und der realen Situation in der Stadt (incl. Aussenbezirke).
Verglichen mit Groningen und anderen scheint mir hier ganz erheblich viel mehr Autoverkehr auf der Strasse zu sein.
Der Anteil an der Verkehrsleistung (incl. der Auswärtigen) in der Stadt (Münster) dürfte für den Radverkehr bei gerade mal ca. 11-12% liegen.
Dementsprechend negativ hat sich die Atmemluft in der Stadt entwickelt.
Bisweilen drängt sich mir der Verdacht auf, dass es gerade der hohe kurzstreckenorientierte innerstädtische Einwohner-Radverkehr ist, der die Fahrbahnen frei hält für den beständig steigenden oft auswärtigen Autoverkehr.
Gäbe es nicht einen so großen Anteil des (separierten) innerstädtischen Radverkehres könnten die hohen Verkehrsleistungen des Auswärtigen MIV vermutlich längst nicht mehr abgewickelt werden. Die Stadt stünde im Dauer MIV-Stau und die Verkehrsleistung des MIV würde tendenziell sinken, da der höhere Anteil der Kurzstrecken die Kapazitäten für die ängeren Strecken begrenzen würden.
Unterm Strich sichert dann der Kurzstreckenradverkehr die hohen Verkehrsleistungssteigerungen des MIV ab ohne dass sich das im Einwohner-modal-split in irgendeiner Weise abbildet.
Da würde mich sehr interessieren, ob es Daten der anderen aufgeführten Städte gibt, die diese Zusammenhänge (reale Verkehrssituation incl. auswärtiger Verkehre) abbildet bzw. vergleichbar macht.
Also eine Gegenüberstellung von Einwohner-modal-split und Gesamt-Verkehrsleistung.
Interessaant fände ich auch, ob die Erhebungsmethodik des Modal-split standardisiert ist, bzw. ob diese sinnvolle vergleiche zulässt (in NRW gibt es das im Rahmen der AGFS).