Dies ist ein Gastartikel von Paul Balzer. Er betreibt einen sehr empfehlenswerten Blog über Fahrzeugtechnik. Wenn auch Sie Interesse haben, hier einen Gastartikel zu veröffentlichen, dann schreiben Sie uns bitte.
Vor einigen Tagen wurde in Dresden die Waldschlösschenbrücke feierlich eröffnet. Was die Verkehrsplaner (und Gegner) der Brücke schon Jahre vorher wussten, geschah. Die angrenzenden Stadtteile können die gewaltige Leistung der Brücke nicht aufnehmen. Es herrscht während des Berufsverkehrs praktisch Dauerstau in den Zubringerstraßen, welche teilweise sogar Tempo 30-Zonen sind.
Weshalb ist das so?
Die Wahl des Verkehrsmittels
Eine einfache aber dennoch ernüchternde Erkenntnis ist:
You are not stuck in traffic, you are traffic!
Seit Jahrhunderten wählt der Mensch sein Verkehrsmittel so, dass eine individuelle Reisezeit (beispielsweise 20 Minuten) von Haustür zu Haustür nicht überschritten wird. Dauert die Fahrt mit dem ÖPNV länger, so wird die Neigung, dieses Verkehrsmittel zu wählen, geringer. Mit dem Pkw verhält es sich ähnlich. Steht man den gesamten Weg zur Arbeit im Stau, so wird man sich schnell nach Alternativen umschauen, z. B. dem Fahrrad.
Natürlich gibt es zu jeder Regel auch eine Ausnahme, bei der man gezwungen ist, ein bestimmtes Verkehrsmittel zu wählen.
Regelkreis für Fahrzeit
Die Wahl des Verkehrsmittels kann man als Regelkreis verstehen. Hat man einen Tag fürchterlich im Stau gestanden, wird man am nächsten Tag die Wahl des Verkehrsmittels überdenken und bei häufigerem Eintreten des Ereignisses eventuell umschwenken. Die individuelle Entscheidung ist sehr komplex und bis heute nicht umfassend durch Simulationsmodelle abgedeckt. Der Mensch führt im eine ganze Reihe an Optimierungen durch, bevor er aus dem Haus geht und seine Verkehrsmittelwahl trifft (Wetter, Kind Kindergarten, nachmittags Getränke kaufen, noch jemanden besuchen, zum Sport, etc.).
Daher soll im Folgenden eine extrem vereinfachte Simulation der Verkehrsstärke und Fahrzeit erfolgen.
Fahrzeitfunktion
Der Zusammenhang zwischen Verkehrsstärke (PKW pro Stunde) und Fahrzeit wird durch die Fahrzeitfunktion (BPR Funktion) abgebildet.
Diese ist modellbasiert in folgender Form darzustellen:
Zur Simulation der Auswirkungen der Eröffnung der Waldschlösschenbrücke wurden hier bestimmte Modellparameter eingesetzt. Zum Beispiel eine Free Float Travel Time von 8 Minuten, welche eine angenommene Fahrt von A->B in der Nacht, also ungestört annimmt. Die Faktoren alpha mit üblichen 0,15 und beta mit 4.
Als Ausgangsleistungsfähigkeit wurden die Verkehrsstärken von Albertbrücke und Loschwitzer Brücke (“Blaues Wunder”) eingesetzt. Die zusätzliche durch die Waldschlösschenbrücke erbrachte Leistung (im Bild oben grün) wird übergeordnet im Regelkreis sprungartig erhöht (Eröffnung der Brücke).
Die individuelle Entscheidung des einzelnen Menschen ist sehr komplex und wird für diesen einfachen Fall in dieser Betrachtung nur als schwingungsfähiges Glied (regelungstechnisch: PT2s Glied) simuliert. Dies sagt nichts anderes aus, als dass es eine Weile dauert, bis sich ein eingeschwungener Zustand ergibt. Die Fahrzeit wird als Sollwert mit 20 Minuten vorgegeben, was in etwa der Wunschfahrzeit bzw. der Schmerzgrenze entspricht. Von dieser wird die reale Fahrzeit abgezogen. Ist die reale Fahrzeit (Ausgabe aus der Fahrzeitfunktion) geringer, so ergibt sich durch die Fahrzeitdifferenz und der Übertragungsfunktion des Menschen eine Verkehrsstärke, welche in nachfolgender Abbildung mit “Ausprobierer-Verkehrsstärke” bezeichnet ist. Dies sind die Leute, die eigentlich mit dem ÖPNV oder Fahrrad fahren könnten, aber durch die neue Verbindung das Verkehrsmittel wechseln und “mal ausprobieren” wollen, wie es sich so fährt.
Hinzu kommen die Leute, die zwingend mit dem PKW fahren müssen. Hier mit 11000PKW/h angenommen.
Die Waldschlösschenbrücke wurde zum Zeitpunkt 1 eröffnet. Die Zeitbasis dieser Simulation ist nicht real und dient nur zur Demonstration, deshalb wird auch keine explizite Zeitangabe wie “Zeitpunkt Tag 1” oder “nach einer Stunde” oder Ähnliches verwendet. Eine zeitliche Anpassung kann nur mit realen Daten vorgenommen werden, was für diesen Beitrag jedoch nicht durchgeführt wurde.
Ergebnisse der Simulation
Erstaunlich ist, dass mit einer solch einfachen Simulation schon ein quantitativ (d.h. die Tendenzen sind erkennbar, die absoluten Werte sind nicht korrekt) beschreibendes Verhalten heraus kommt. Die Phänomene, die auch real zu beobachten sind, erscheinen in der Simulation ebenfalls.
Es ist schön zu erkennen, dass die Verkehrsstärke (in Pkw/h) eine gewisse Zeit zum Einpendeln benötigt. Dies wird in der Simulation durch die individuelle Entscheidung des Menschen hervorgerufen, welcher sich nach einem Stauerlebnis in den nächsten Tagen lieber erst mal nicht anstellt, bis er von seinem Nachbarn hört, dass es doch super lief, usw.
Reisezeit
Der interessantere Teil ist aber eigentlich, wie sich die Fahrzeit verhält:
Hier kommt genau das Phänomen zum Vorschein, welches dieser Tage auch in der Realität zu beobachten ist: Nach anfänglicher massiver Reduzierung der Reisezeit (erste Stunden nach der Eröffnung in der Nacht) nutzen immer mehr Menschen diesen neuen Verkehrsweg, womit sich die Reisezeit wieder massiv erhöht.
Einpendeln wird sich der Wert auf die Fahrzeit, der auch vorher vorherrschte: 20 Minuten. Denn der Mensch wählt sein Verkehrsmittel eben auch wegen der Tür-zu-Tür Zeit. Ergibt sich eine komfortablere Reisevariante, so wird der Mensch diese wählen.
Fazit
Der Autor dieses Beitrags ist kein Verkehrsplaner und hat auch keinen Zugriff auf validierte Simulationsumgebungen für Verkehrsnachfragemodelle. Mit den Überlegungen sollte nur eins erreicht werden: Der Leser soll sich darüber im Klaren sein, dass die wichtigste Stellgröße für die Verkehrsnachfrage der Mensch selbst ist. Wenn man sich persönlich dazu entschließt, das Fahrrad zu nehmen, dann kann man nass werden und somit einen Komfortverlust erleiden. Wenn man sich zu einer Fahrt mit dem Pkw entschließt, kann man im Stau stehen. Wenn man mit dem ÖPNV fährt, so kann es durchaus vorkommen, dass kein Sitzplatz mehr frei ist.
Letztlich können so viele Brücken und Verkehrswege entstehen, wo und wie sie wollen. Das Verkehrsaufkommen wird sich darauf einstellen, denn wir Menschen möchten einfach nur bequem, sicher und schnell von A nach B kommen.
Anmerkung Martin Randelhoff
Die Berechnungen von Paul lassen sich natürlich noch stärker auf das Beispiel der Waldschlößchenbrücke beziehen. Die Art und der Umfang der Simulationen, die an dieser Stelle besprochen werden können, sind natürlich nur sehr stark eingeschränkt. Eine eingehende Modellierung der Wahlentscheidungen der Verkehrteilnehmer mit entsprechenden Verkehrsverteilungs- und Verkehrsaufteilungsbetrachtungen kann an dieser Stelle leider nicht durchgeführt werden.
Jedoch lassen sich die Gedanken von Paul ein wenig fortführen, sodass die verwendete Funktion etwas eingehender beleuchtet wird. Hierzu ist die Bestimmung einiger weiterer Parameter notwendig, um vor allem den Parameter α der Kapazitätsbeschränkungsfunktion (siehe oben) näher bestimmen zu können:
Die Reisezeit tc [s] ergibt sich zumeist aus der Fahrzeit, die sich wiederum für die Verkehrsstärke q = C [ Fz/h], der Geschwindigkeit bei C in [km/h], VC, und der Länge der betrachteten Strecke, L in [km], ergibt.
Die Reisezeit t0 [s] bei der Verkehrsstärke q = 0 wird aus der freien Geschwindigkeit [km/h], die sich anhand der auf der Waldschlößchenbrücke geltenden Geschwindigkeitsbegrenzungen von 50 km/h bzw. in den Abend- und Nachtstunden von 30 km/h, bemisst, und der Länge in [km] L bestimmt.
Die Kapazität der freien Strecke wird von der Anzahl der Spuren und dem Streckentyp vorgegeben.
Für die Waldschlösschenbrücke ergibt sich somit: Zur Bestimmung der Reisezeit tc ist Kenntnis über die Geschwindigkeit VC [km/h] bei Kapazität C notwendig. Diese ist empirisch näherungsweise zu bestimmen:
Mit Hilfe der errechneten Werte kann nun mit Hilfe eines entsprechenden Simulationsprogramms der Parameter α näher bestimmt werden. Somit ergibt sich eine genauere Ermittlung der variablen Aufwandswerte für die betrachtete Strecke, d.h. in diesem Falle für die Waldschlösschenbrücke.
Leider ist die Überschrift für diesen Artikel meines Erachtens völlig Fehl am Platz. Eine typische Eye-Catcher Überschrift, worauf im Text nicht direkt weiter eingegangen wird. Sie impliziert bei vielen Menschen die Fehldeutung, dass der Bau der Waldschlösschenbrücke eigentlich gar nichts gebracht hat – was wiederum totaler Unfug ist. Welche Reisezeiten welcher Verkehrsmittel werden denn genau “nicht reduziert” ?
Es ist zwar schön, dass Sie die Eigenschaft des Nutzergleichgewichtes im Verkehr erklären (mal abgesehen davon, dass die Wahl einer BPR-Funktion aufgrund ihrer Nachteile in der Abbildung der Realität hier nicht zielführend ist), aber wie schon oben beschrieben, fehlt mir der Bezug zur Überschrift…. Bitte ein bisschen einfühlsamer mit solchen Dingen umgehen….
Vielen Dank für den aufschlussreichen Artikel. Es stimmt, sobald sich der Knotenpunkt Waldschlößchenbrücke in das Verkehrsnetz der Landeshauptstadt und seiner Bürger integriert hat (inbesondere in die täglichen Entscheidungsprozesse, ob Auto, Bus, Straba, Rad oder anderes Verkehrsmittel) werden sich neue Rückkopplungsschleifen im komplexen Verkehrssystem ergeben.
Ähnlich ist es beim Big Dig in Boston vor einigen Jahren gegangen, http://j.mp/1ebmhlx