In Nordrhein-Westfalen eskalieren derzeit die Verhandlungen für das Semesterticket vor sich hin. Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) verhandelt derzeit mit Studierendenvertretern über die Preisgestaltung des Semestertickets für das Sommersemester 2014.
Durch eine Verquickung mehrerer äußerst unglücklicher Umstände wurde vonseiten der Politik und der Studierenden aufgefasst, dass der Preis für das Semesterticket um bis zu 43 Prozent steigen soll. Dem ist aber mitnichten so!
Der Verwaltungsrat des VRR soll stattdessen am 27.09.2013 Folgendes beschließen:
Der Verwaltungsrat beschließt für das Sommersemester 2014 eine Preisanpassung des SemesterTickets in Höhe von 5,1 %. Dieser Preis gilt ausschließlich für das Sommersemester 2014 und wird bei den anstehenden Verhandlungen berücksichtigt.
– Beschlussvorlage M/VIII/2013/0456 vom 03.09.2013
Doch woher kommt die kolportierte Preissteigerung von 43%? Und welche Rolle spielt die sich im Wahlkampf befindende Politik?
Leider hat es der VRR bislang noch nicht geschafft, die Unklarheiten zu beseitigen und den Konflikt dadurch zu befrieden. Zwar agiert der VRR im Vergleich mit anderen Verbünden relativ progressiv und adaptiert Innovationen relativ schnell. Jedoch scheinen die internen Strukturen und Abläufe noch nicht an die heutige Geschwindigkeit sozialer Medien angepasst worden zu sein. Meiner Meinung nach hätte der VRR bereits in den ersten Tagen die Eskalation des Konflikts durch einige einfache Maßnahmen verhindern können.
Nun muss er in Zukunft als Negativbeispiel für eine mangelhafte Kommunikation dienen.
Die Ausgangslage
Im VRR wurde das Semesterticket im Jahr 1992 eingeführt. Es ist im VRR-Tarifbereich gültig, jedoch können Hochschulen entsprechende Verträge abschließen und das Tarifgebiet auf das gesamte ÖPNV-Angebot Nordrhein-Westfalens ausweiten. Das Semesterticket ist für sechs Monate gültig und kostet im VRR-Bereich 106,62 Euro. Die NRW-Erweiterung kostet 44,00 €.
Das Semesterticket muss dem Solidaritätsprinzip entsprechend von allen Studierenden erworben werden. Indem alle Studierenden das Semesterticket finanzieren, jedoch nur unterschiedlich nutzen (manche nutzen das Ticket beispielsweise gar nicht oder nur wenige Tage im Semester. Pkw-Besitz definiert laut diverser Untersuchungen auch die Nutzung des Semestertickets.), kann das Semesterticket im Rahmen der Mischfinanzierung günstiger als vergleichbare Monatstickets angeboten werden. Die zwangsweise Einbeziehung ermöglicht den Studierendenvertretungen den massenweisen und im Vergleich zu Ausbildungs- oder Regeltarifen stark rabattierten Erwerb öffentlicher Verkehrsleistungen. Insbesondere sozial Schwächere oder Studierende mit hohen Mieten profitieren vom Semesterticket.
Bei der Festsetzung der Beitragshöhe müssen die sozialen Verhältnisse der Studierenden angemessen berücksichtigt werden (vgl. § 57 Abs. 1 HG NRW). Der mit der Aufgabenwahrnehmung des Zwangsverbands verbundene Eingriff in die Handlungsfreiheit des einzelnen Mitglieds muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, “das heißt er muss geeignet und erforderlich sein und die dem Mitglied entstehende Belastung muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den ihm und der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen” (BVerfG, 1 BvR 1510/99 vom 4.8.2000).
Bei Einführung des Semestertickets im Jahr 1992 wurden die Verkäufe der Monatskarten im Ausbildungsverkehr und der dazugehörigen Preisstufe als Kalkulationsbasis zugrunde gelegt. Abgeleitet aus den Erfahrungswerten mit anderen ähnlich gelagerten obligatorischen Angeboten einer Solidarfinanzierung wie dem KombiTicket oder dem FirmenTicket wurde damals eine Verdoppelung der Nutzung unterstellt.
Zudem wurde bei Einführung des Tickets vereinbart, dass die Kosten entsprechend der Preissteigerungen anderer Zeitausweise im VRR steigen:
Für den Fall, dass die Preise für Zeitfahrausweise im VRR im Rahmen einer Tariferhöhung angehoben werden, ist die VRR GmbH berechtigt, den Preis für das SemesterTicket um die Prozentzahl anzuheben, die dem Durchschnitt der Tariferhöhung entspricht.
Diese Formulierung wurde fünf Jahre später offener formuliert:
Bei Änderungen des VRR-Tarifs werden die Fahrpreise des SemesterTickets an den gültigen Tarif angepasst.
Der Preis des Semestertickets stieg daher in den vergangenen Jahren entsprechend der durchschnittlichen Preiserhöhung anderer VRR-Fahrausweise.
Eine Fahrgastzählung im Jahr 2010 stellte jedoch fest, dass die Nutzung des ÖPNV durch Studierende nicht nur um die unterstellten 50 Prozent, sondern um etwa 100 Prozent (zwei Drittel der Studierenden nutzen das Ticket statt ursprünglich angenommener 33%) gestiegen war. Insgesamt nutzen also mehr Studierende als ursprünglich angenommen das Semesterticket. Die Kalkulationsgrundlage je Personenkilometer (Pkm) muss aus diesem Grund nach oben angepasst werden. Der Erlös pro Fahrt mit einem Semesterticket liegt derzeit deutlich unter denen der übrigen vergleichbaren Tickets.
Das Semesterticket wurde mit der Intension eingeführt, Studierenden eine größtmögliche Mobilität zu geringen Kosten zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, ohne fahrtspezifische Kosten den gesamten ÖPNV des NRW-Tarifs zu nutzen. Durch das neue Angebot wurden im Folgenden Verkehre aufgrund der besseren Preisbewertung von anderen Verkehrsmitteln wie dem Pkw auf den ÖPNV verlagert und zudem durch den Wegfall der fahrtspezifischen Kosten neuer Verkehr induziert, d.h. erzeugt.
Die verkehrliche Komponente
Eine Befragung von 2.844 befragten Studierenden der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2010 versucht eine Antwort auf das geänderte Verkehrsverhalten zu geben 1. Zu diesem Zweck wurden die Studierenden im Rahmen der Stichtagsabfrage gebeten, hypothetische Angaben darüber zu machen, ob bzw. auf welche Art und Weise sie die mit dem NRW-Semesterticket getätigten Fahrten vermutlich durchgeführt hätten, wenn sie nicht im Besitz des NRW-Semestertickets gewesen wären (Eingruppen-Posttest-Befragung).
44 Prozent der Befragten hätten auch ohne Semesterticket die Fahrt mit dem ÖPNV durchgeführt, folglich also andere Fahrscheine erworben. 22 Prozent der Befragten hätten ihren Weg mit einem anderen Verkehrsmittel (18% Pkw, 2% Fahrrad, 1% Fuß, 1% Sonstiges) durchgeführt. Der Verlagerungseffekt vom MIV (motorisierter Individualverkehr: Pkw und motorisierte Zweiräder) ist aus ökologischer Sicht sinnvoll, die Verlagerung von Fuß- und Radverkehr unerwünscht. 28 Prozent der Befragten hätte die Fahrt nicht durchgeführt und hat durch das Semesterticket die Chance bekommen, den jeweiligen Aktionsradius zu erweitern. Für Verkehrsunternehmen bedeutet dies jedoch im Umkehrschluss, dass durch das Semesterticket eine um 28% erhöhte Nachfrage erzeugt wurde.
Der Vergleich der mittleren Wegelängen in Abhängigkeit von der geschätzten alternativen Durchführungsart der Fahrten im Falle des Nichtbesitzens eines NRW-Semestertickets zeigt, dass ohne den Besitz des NRW-Semestertickets vor allem sehr weite Strecken (104 km) vermutlich nicht durchgeführt worden wären. Für ebenfalls überdurchschnittlich hohe Wegelängen (90 km) wären kürzere Fahrten durchgeführt worden. 2 Die zusätzlich durch das Semesterticket erzeugten Wege sind also noch besonders lang. Dies hat die Ursache, dass Studierende aus Bielefeld vor allem zusäzliche Fahrten zu Freizeitzwecken in die Zentren NRWs (38%), in die Natur (36%) sowie Fahrten in die Heimat (30%) nicht durchgeführt haben (ebd., S. 103).
Dabei fahren Bielefelder Studierende am häufigsten in das Tarifgebiet des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr:
Bielefeld liegt im Nordosten Nordrhein-Westfalens. Dennoch wird der VRR auch von Bielefelder Studierenden am intensivsten genutzt. “Die Nutzungsintensität korrespondiert mit den auch insgesamt hohen Werten im Verkehrsaufkommen der beiden Verkehrsverbünde, die den öffentlichen Verkehr in der Metropolregion Rhein-Ruhr koordinieren. Der VRR verzeichnet mit 1.111 Millionen Fahrten das größte Fahrtenvolumen, an zweiter Stelle folgt der VRS mit insgesamt 449 Millionen Fahrten (vgl. KCM 2009b, S. 7).” (MÜLLER (2010), S. 93). Unter der Annahme, dass der Raumwiderstand Bielefelder Studierender durch ihre geographische Lage größer ist als Studierender, deren Universitäten näher am VRR-Gebiet liegen, dürfte der VRR mit einer überdurchschnittlichen studentischen Nachfrage nach Verkehrsleistung konfrontiert sein.
Die politische Komponente
Zu den bei Einführung des Semestertickets unterschätzten Nutzungsintensitäten und Fahrweiten kommt hinzu, dass die Politik von den allermeisten Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen fordert, dass der Anteil der Nutzerfinanzierung erhöht wird. Der öffentliche Verkehr wird zu einem Teil aus Fahrgeldeinnahmen und zum anderen Teil aus öffentlichen Zuschüssen finanziert (siehe auch: Die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs in Deutschland: Struktur, Probleme und Alternativen). Die Politik möchte den öffentlichen Zuschussbedarf zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte möglichst gering halten und drängt daher Verkehrsunternehmen und -verbünde, die Fahrpreise zu erhöhen. In den vergangenen Jahren kam es daher zu entsprechenden Fahrpreisanpassungen, die jedoch gewisse Grenzen in der Zahlungsbereitschaft haben.
Am 12.07.2013 haben die entsprechenden Zweckverbandsgremien im VRR eine allgemeine Preiserhöhung um 3,3 % zum 01.01.2014 beschlossen (Drucksachennummer M / VIII / 2013 / 0437). Aufgrund der stärkeren Nutzung des Semestertickets durch Studierende, den geringeren Erlösen pro Fahrt und dem Druck seitens der Politik neue Einnahmepotenziale zu erschließen, wurde damals vom Verwaltungsrat beschlossen, dass der VRR mit den Studierendenvertretern eine höhere Preissteigerung für das Semesterticket verhandeln soll.
Beim SemesterTicket gelten vertragsgemäß die neu festgelegten Ticketpreise für das Sommersemester 2014 und für das Wintersemester 2014/2015. Der mit dieser Vorlage vorgeschlagene Preis pro Semester entspricht dem allgemeinen Erhöhungsmaß und entspricht der Preisgleitklausel der bestehenden Verträge. In den nun anstehenden Gesprächen mit den Asten soll aber ein nutzungsgerechterer Preis vereinbart werden.
– Drucksachennummer M / VIII / 2013 / 0437, 18.06.2013, S. 4
Die Mitglieder des Verwaltungsrats des VRR (Mitgliederliste), die sich hauptsächlich aus Kommunalpolitikern zusammensetzen, haben dieser Preiserhöhung und auch einer höheren Belastung der Studierenden zugestimmt. Es ist also mitnichten der Fall, dass die Politik bislang ahnungslos war.
Der Konflikt
Der Konflikt zwischen Studierendenvertretern und dem VRR entzündet sich vor allem an folgendem Satz:
In den ersten überschlägigen Berechnungen und Kalkulationsansätzen ist von einem finanziellen Nachholbedarf von bis zu rd. 43 % auszugehen.
Mit diesem ist jedoch keineswegs gemeint, dass der Preis ab Sommersemester 2014 um 43 Prozent steigen soll!
Würde heute noch kein Semesterticket im VRR existieren und ein solches erst zum Sommersemester 2014 neu eingeführt werden, würde unter Berücksichtigung der Fahrgastzählung und bislang gemachter Erfahrungen ein um 43% höherer Preis festgelegt werden müssen. Der Preis für das Semesterticket wird aber nicht um 43% zum SS 2014 steigen! Stattdessen ist eine Erhöhung um 5,1% geplant!
Somit soll der Preis des Semestertickets von derzeit 17,77 €/Monat auf 18,68 €/Monat also um 0,91 €/Monat ansteigen. Pro Semester sind folglich 5,46 € mehr für das Semesterticket zu bezahlen. Die Mehreinnahmen für den VRR betragen im SS 2014 etwa 370.000 Euro.
Natürlich wird der Preis für das Semesterticket im Vergleich zur Preisanpassung zum Jahreswechsel überproportional angehoben (5,1 statt 3,3%). Die kommunizierte Preisanpassung um 43% zum SS 2014 ist jedoch falsch!
Bei den Verhandlungsführern der Studierenden scheint laut Beschlussvorlage ein gewisses Verständnis für einen höheren Ticketpreis erkennbar gewesen zu sein, allerdings nicht in dem als erforderlich angesehenen Maß (5,1 statt 3,3%). Vor allem wird die Korrektheit der Fahrgastbefragung angezweifelt. Die Ankündigung des zum Sommersemester 2014 geltenden Preises muss vertraglich zum 01.11.2013 schriftlich erfolgen und folglich noch im September 2013 durch den Verwaltungsrat des VRR beschlossen werden.
Die Fehlinformation
RP Online veröffentlichte am 24.07.2013 einen Artikel mit der Überschrift “Preis für Semesterticket soll um 43 Prozent steigen“. Vertreter der Uni Duisburg-Essen berichteten, dass der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) in Verhandlungen eine Preiserhöhung von 43 Prozent angekündigt habe. Der Grünen-Politiker und Mitglied des VRR-Verwaltungsrats Norbert Czerwinski bestätigte, dass beim Semesterticket “eine Finanzierungslücke von bis zu 50 Prozent” bestehe.
ak[due]ll, die studentische Zeitung für Duisburg, Essen und das Ruhrgebiet schrieb am 30. Juli 2013:
Nach den Vorstellungen des VRR soll das Verbundticket demnächst um 43 Prozent teurer werden. Das hat der Konzern den Studierendenvertreter*innen in der ersten Verhandlungsrunde eröffnet. Ab 2014 will der VRR pro Studi also über 45 Euro pro Semester mehr.
Und weiter:
Die Preissteigerung könnte, so Vertreter*innen des VRR, ab 2014 Schritt für Schritt durchgeführt werden. Doch noch steht die Erhöhung nicht fest. „Wir wollen momentan noch keine genauen Angaben machen, weil wir noch Gespräche mit dem VRR führen“, sagt der AStA-Vorsitzende Felix Lütke. „Da ist es besser, direkt zu kommunzieren und nicht über die Presse.“
Ende Juli wurde zum erste Mal die Fehlinformation einer Preiserhöhung um 43 Prozent veröffentlicht. Viele Studierenden trauten ihren Augen kaum und fürchteten die finanzielle Mehrbelastung. Wäre tatsächlich eine Preissteigerung um 43 % geplant gewesen, übrigens völlig zurecht! Solche sprunghaften Preisanpassungen sind soziales Gift!
Die Reaktion der Studierenden
Die Proteste von Seiten der Studierenden kanalisierten sich vor allem auf Facebook und mündeten in der Facebook-Seite “So nicht, VRR!“, die seit der Gründung am 21. August 2013 bereits von über 16.000 geliked wurde.
Aus der Seitenbeschreibung:
Der VRR plant zum Sommersemester 2014 eine drastische Erhöhung der Preise des VRR-Semestertickets für die Studierenden aller Universitäten und Fachhochschulen im VRR-Gebiet. Diese Erhöhung, die im deutlich zweistelligen Bereich liegen wird, nimmt keine Rücksicht auf die sozialen Nöte der 190.000 Studierenden an Universitäten und Fachhochschulen im VRR. Diese Seite soll den berechtigten Unmut sammeln und zu erfolgreichem Protest kanalisieren.
Diese Seite ist ein gemeinsames Projekt aller Studierendenvertretungen (Asten) der betroffenen Fachhochschulen und Universitäten.Wir sind viele, wir werden laut sein und wir sagen:
Semesterticket 43% teurer? So nicht, VRR!
Merkt euch deshalb alle den 27.09.2013 vor. Der VRR will an diesem Tag im Verwaltungsrat über unsere Köpfe hinweg eine drastische Preiserhöhung beschließen. Das nehmen wir nicht ohne Widerstand hin und werden uns ab 9 Uhr in Duisburg am Hauptbahnhof treffen und uns dann nach einer Auftaktkundgebung im Zuge eines Demonstrationszuges auf den Weg zum Duisburger Rathaus machen, wo der VRR tagen wird.
In den Social Media-Kanälen des VRR wurde nach Erscheinen des Artikels bei RP Online natürlich entsprechender Unmut geäußert. Am 24. Juli erfolgten vereinzelt erste Posts auf der Facebook-Seite des VRR, die einen Tag später händisch in Kommentaren vonseiten des VRR beantwortet wurden.
Die Situation beruhigte sich bis Anfang September 2013 und wurde durch die Gründung der “VRR, so nicht!”-Seite wieder aktuell. Am 03. September, dem Tag der Beschlussfassung, reagierte der VRR mit einer offiziellen Facebook-Meldung. Informationen auf der Webseite des VRR und somit außerhalb von Facebook sind bis heute noch nicht zu finden!
Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten:
Kern des Problems ist mittlerweile, dass viele Studierende dem VRR unterstellen, eine massive Preiserhöhung auf Raten durchführen zu wollen. Statt einer einmaligen Erhöhung um 43 Prozent werden Steigerungen je Semester befürchtet, die weit über den durchschnittlichen Fahrpreisanpassungen liegen. Des Weiteren wird unterstellt, dass die Erhöhung um 5,1 Prozent alle Dämme brechen lässt und ein Präzedenzfall für künftige massive Erhöhungen geschaffen wird. Rein rechnerisch müssten die Preise für das Semesterticket jedoch unter Annahme von jährlichen allgemeinen Preissteigerungen von 2,5% und einer maximal durchsetzbaren Erhöhung von 5% 14 Jahre lang bei einer Preiserhöhung im Jahr (jedes zweite Semester) steigen. Dies dürfte politisch wie gesellschaftlich kaum durchsetzbar sein, sodass es vermutlich auch mittelfristig nicht zu einer entsprechenden Preiserhöhung um netto 43% kommen dürfte.
Hinzu kommt, dass eine überproportionale Erhöhung mit den derzeitigen Verträgen vermutlich nicht möglich ist (“Bei Änderungen des VRR-Tarifs werden die Fahrpreise des SemesterTickets an den gültigen Tarif angepasst.”). Dieses Defizit dürfte aber vermutlich durch eine Vertragsänderung oder dem Abschluss eines neuen Vertrages geheilt werden dürfen.
Das politische Spiel
Am 12.07.2013 hat die Politik, welche die absolute Mehrheit des VRR-Verwaltungsrates stellt, beschlossen, den Preis für das Semesterticket stärker als die durchschnittliche Preiserhöhung zum Jahreswechsel 2013/2014 zu erhöhen.
Nach der Erregungswelle und vor dem Hintergrund bald anstehender Wahlen erklären Frank Heidenreich von der CDU und Norbert Czerwinski für die Grünen nun in einer gemeinsamen Erklärung:
Die verstärkte Nutzung durch die Studierenden ist wahrlich eine gute Nachricht für uns, dem ÖPNV im Revier und für die Umwelt. Deshalb müssen wir das Semesterticket zukunftsfest und gerechter machen, um die Akzeptanz zu sichern. Die von der VRR-Verwaltung vorgelegten Zahlen werfen einige Fragen auf. Die politischen Gremien sind bislang unzureichend informiert, um die Plausibilität prüfen zu können. Genauso wie die ASten erwarten wir größtmögliche Transparenz.
Und weiter:
Das Semesterticket sollte die allgemeine Preiserhöhung um 3,3% mitmachen. Mehr ist mit uns nicht zu machen. Über alles Weitere reden wir mit den ASten in Ruhe. Eine zukünftige für alle gerechte Preisgestaltung kann in Ruhe für 2015 verhandelt werden. Wir sind zu politischen Gesprächen gerne bereit.
Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr agiert nicht im luftleeren Raum, sondern muss als Organ der Exekutive die Vorgaben der Politik erfüllen und sich entsprechende Maßnahmen zur Erfüllung der gesetzten Ziele genehmigen lassen. Um die öffentlichen Haushalte zu entlasten, erteilte die Politik den Auftrag, den Anteil der Nutzerfinanzierung an den Kosten des ÖPNV zu erhöhen. Der VRR hat versucht, dies im Rahmen der Preisverhandlungen um das Semesterticket umzusetzen. Adressat des Unmutes sollte daher nicht der VRR, sondern vielmehr die Politik sein. Diese versucht nun, die Verantwortung für ihre Vorgaben der Verwaltung in die Schuhe zu schieben!
Generell ist die politische Ebene nicht bereit, dem öffentlichen Personennahverkehr langfristige Finanzierungszusagen zu geben und die langfristige Ausrichtung zu beschließen. Der Konflikt und das Abschieben der Verantwortung auf die Verwaltung im Rahmen der Preisverhandlungen um das Semesterticket sind nur ein Symptom tiefer gehender struktureller Defizite.
Vor der Wahl wurde der Schwarze Peter aber schnellstmöglich an den VRR weitergegeben, damit man nicht einmal in die Gefahr einer politischen Diskussion kommt!
Welche Lehren müssen Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünde aus diesem Fall ziehen?
Für einen Verkehrsverbund wie auch für Verkehrsunternehmen ist eine solche Situation heikel.
Es war absehbar, dass sich nach den ersten Artikeln in der Presse, eine Empörungswelle aufschaukeln dürfte. Dies äußerte sich bereits in einigen Nutzerbeiträgen auf der VRR-Facebook-Seite.
Ein Eingreifen zu diesem Zeitpunkt hätte die Situation vermutlich befriedet und den Widerstand nicht so groß werden lassen. Zumal vor allem die Information, dass der Preis für das Semesterticket zum Sommersemester 2014 um 43 Prozent steigen solle, falsch ist. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine umfassende und schnelle Reaktion seitens des VRR erfolgen müssen, in der die Situation eindeutig, klar und umfassend mit Hintergrundinformationen belegt, erklärt hätte werden müssen. Und zwar nicht nur auf Facebook, sondern auch an prominenter Stelle auf der Webseite des VRR.
Da bis zur Veröffentlichung der Beschlussvorlage am 03. September 2013 eigentlich Stillschweigen vereinbart war, hätten die Verantwortlichen für Kommunikation mit den Verhandlungspartnern schnellstmöglich vereinbaren müssen, die Situation aufklären zu dürfen. Zwar hat der VRR bereits im Vorfeld unter Wahrung der Stillschweigevereinbarung den Versuch unternommen, auf Facebook die Wogen zu glätten. Eine umfassendere Reaktion hätte jedoch relativ zügig von der Führungsebene des VRR beschlossen werden müssen und hätte den Konflikt vermutlich bereits im Vorfeld entschärfen können. Zumal die entsprechenden Beschlussvorlagen (im Artikel verlinkt) bereits im Bürgerinformationssystem des VRR zu finden waren.
Zudem hätten die entsprechenden Presseorgane und Journalisten informiert werden müssen, dass eine Preiserhöhung um 43 Prozent nicht geplant sei. Ebenso goss VRR-Verwaltungsrat Norbert Czerwinski (Grüne) noch Öl ins Feuer, anstatt die von ihm mitverabschiedete Preisanpassung zu erläutern.
Des Weiteren hätte der VRR über die entsprechenden Organe frühzeitig an die ASten herantreten müssen, um nochmals die Situation zu erklären und Missverständnisse auszuräumen.
Der VRR sollte meiner Meinung nach möglichst rasch mit den entsprechenden Fachabteilungen (Pressearbeit, Social Media, Public Relations, politische Kommunikation, u.a.) die entsprechenden Informationen aufarbeiten und auf der eigenen Webseite sowie in den entsprechenden Kanälen veröffentlichen. Die zu veröffentlichenden Informationen umfassen unter anderem die Fahrgastbefragung mit den entsprechenden Informationen zum studentischen Verkehrsverhalten, den Erhebungsaufbau sowie die wichtigsten finanziellen Parameter (Kosten je Pkm, Kostendeckungsgrad je Pkm, Erlös je Fahrt, usw.). Alle Inhalte sind einfach verständlich aufzuarbeiten. So einfach wie möglich, so komplex wie nötig.
Des Weiteren sollten weitergehende Informationen wie die allgemeine Kostenentwicklung bei Verkehrsunternehmen im VRR der vergangenen Jahre sowie die entsprechenden Nachfrage- und Kapazitätskennzahlen des Studierendenverkehrs veröffentlicht werden. Fokus sollte hier vor allem auf Taktverdichtungen und Kapazitätsausweitungen von / zu Universitäten und Hochschulen gelegt werden.
Die derzeitige Diskussion um das VRR-Semesterticket, die aufgrund der betroffenen sozialen Gruppe vorrangig in sozialen Medien geführt und dort ebenfalls der Widerstand organisiert wird, stellt die heute existierende Organisationsstruktur teilweise infrage. An vorderster Front befindet sich das Social Media-Team, die einen Großteil des Unmutes absorbieren und den Hauptteil der Kommunikationsarbeit mit den Betroffenen leisten müssen. Jedoch wäre es grundfalsch, die jetzige Situation an den erfolgten oder eben nicht erfolgten, Handlungen des Social Media-Teams festzumachen.
Bei den heute existierenden Organisationsstrukturen ist das VRR-SM-Team nur die Tür, durch die der Unmut auf den VRR hineinströmt und theoretisch eine Lösung herausgelangen müsste. Denn der Adressat steht davor und begehrt entsprechende Aufmerksamkeit. Viel wichtiger ist jedoch, was hinter der Tür geschieht. Und da Social Media-Manager meistens nur für die Kommunikation und nicht für die Organisationsstrategie, Unternehmensorganisation, politische Kommunikation und die ganzheitliche Kommunikationsstrategie verantwortlich sind, müssen diese Aufgaben an anderer Stelle erfüllt werden. Aus diesen Abteilungen muss auch der Impuls an das SM-Team ausgesendet werden, eine entsprechende auf die jeweilige Situation zugeschnittene Kommunikationsstrategie für Soziale Medien zu erarbeiten. Leider kommunizieren die entsprechenden Stellen häufig sogar unternehmensintern relativ mangelhaft, sodass die letztendlichen Kommunikatoren häufig alleine gelassen werden.
Der Türsteher in Form des Social Media-Teams kann extrem gut sein. Solange sich die bereits existierenden Strukturen nicht adaptiert haben, steht es alleine auf weiter Flur. Die Richtlinienkompetenz ist meistens an anderer Stelle in der (Unternehmens)-Organisation verortet, die in den allermeisten Fällen das proaktive und schnelle Kommunizieren, wie es Soziale Medien eigentlich erfordern, nicht gewöhnt sind.
Sogenannte “Shitstorms” sind in den allermeisten Fällen gar keine Kommunikationsfehler des Social Media Teams, sondern vielmehr grundlegende strukturelle Fehler des Unternehmens oder anderer Personen im Unternehmen. Die entsprechenden internen Anpassungsprozesse benötigen jedoch ihre Zeit. Darum sollten Verkehrsunternehmen ebenso wie Verbünde frühzeitig die notwendigen Reformen anstoßen.
Lehren für andere Verkehrsunternehmen und -verbünde
Umstrittene Themen lassen sich vorab entsprechend vorbereiten. Insbesondere Tarifanpassungen bedürfen in der heutigen Zeit einer weitergehenden Erklärung. Ein lapidarer Verweis auf gestiegene Kosten ist nicht mehr ausreichend. Vielmehr sollten Einzelposten aufgeschlüsselt und genauer erklärt werden. Zu diesem Schritt muss jedoch der gesamte Verkehrsverbund bzw. das Verkehrsunternehmen bereit sein.
Kommunikation darf nicht mehr isoliert gedacht werden. Eine Trennung in Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Social Media und politischer Kommunikation ist heutzutage nicht zielführend. Stattdessen sollte eine ganzheitliche Kommunikationsstrategie mit klar definierten Aufgabenfeldern entwickelt werden.
Verkehrsunternehmen und auch Verbünde brauchen sogenannte “red teams”, schnelle Eingreifgruppen, die nicht nur bei Zwischenfällen wie Zugunglücken, etc. unter Zuhilfenahme entsprechender vorab festgelegter Kommunikationsleitfäden reagieren können, sondern auch in Situationen, wie sie beispielsweise zurzeit beim VRR zu beobachten sind. Hierzu müssen die oberen Ebenen die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Dies umfasst sowohl die strategische Ausrichtung ebenso wie die internen Kommunikationskanäle, die von unten nach oben ebenso wie von oben nach unten funktionieren müssen.
Die internen Abstimmungsprozesse sind möglichst weit zu verschlanken und die Kommunikationsverantwortlichen mit entsprechender Handlungskompetenz auszustatten. Mehrstufige Abstimmungsprozesse mit entsprechenden Schleifen über mehrere Abteilungen hinweg dauern zu lange und sind häufig ineffizient. Grundlage für eine rasche Reaktion ist ein durchgängiges Monitoring entsprechender sozialer Medien, Blogs und anderer Kommunikationsformen. Kommunikationsmuster sollten frühzeitig erkannt, verstanden und in entsprechender Geschwindigkeit eine Strategie erarbeitet werden. Dabei sollten verschiedene Formate parallel bespielt werden, um flächendeckend und zielgruppengerecht zu agieren.
Im VRR ist das Kind dieses Mal noch in den Brunnen gefallen. Hoffen wir, dass es bald schwimmen lernt!
- MÜLLER, Miriam (2010): Das NRW-Semesterticket – Akzeptanz, Nutzung und Wirkungen dargestellt am Fallbeispiel der Universität Bielefeld, In: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH (Hrsg.) Wuppertaler Studienarbeiten zur nachhaltigen Entwicklung, Nr. 1 · September 2011, S. 99f ↩
- vgl. MÜLLER, Miriam (2010): Das NRW-Semesterticket – Akzeptanz, Nutzung und Wirkungen dargestellt am Fallbeispiel der Universität Bielefeld, In: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH (Hrsg.) Wuppertaler Studienarbeiten zur nachhaltigen Entwicklung, Nr. 1 · September 2011, S. 102 ↩
grundsätzlich ist nichts gegen ein billiges studiticket einzuwenden. ich kann mich auch noch an meine studizeit anfang der 90er erinnern, als wir in wuppertal eben darum gestritten haben – insbesondere mit der autofahrerlobby.
damals hat das ticket noch 80dm gekostet – für den gleichen gültigkeitsraum haute über 100euro. dagegen gab es wohl nie irgendwelche proteste, eben auch, weil es vertraglich festgeschrieben ist.
allerdings: inzwischen arbeitstätig und gealtert und immer noch regelmäßig mit öpnv unterwegs stoße ich an den haltestellen immer häufiger auf mißmut – und mir geht’s häufig auch so, weil …
… immer häufiger muß man – zumindest in wuppertal – erleben, daß die regulären busse gerade zur allgemeinen feierabendzeit proppenvoll von der uni kommen, so daß niemand mehr da reinkommt. die extra für die studis eingesetzten schnellbusse – ohne zwischenhalt – aber nahezu leer an den wartenden vorbeirauschen.
eine bevorzugte behandlung zu einem wesentlich günstigeren preis: das mag dem gemeinen berufstätigen schon mal aufstoßen.
da stimmt wohl was nicht mit der verkehrsplanung des verkehrsbetriebs – und in der wahrnehmung der studis bzw. des asta.
jedenfalls ein vernünftiger, detaillierter und verständlicher artikel.
kompliment.
t.t.