Eisenbahn

ICE 1223 sorgt für meinen ersten Eisenbahnunfall

Heute Vormittag hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, den ICE-Unfall nahe Lippstadt persönlich miterleben zu dürfen. ICE 1223 von Darmstadt nach München wurde am 24. August von Baureihe 403 “Münster” gefahren. Nach dem Halt in Lippstadt beschleunigte der Zug wieder auf 160 Stundenkilometer, als der ICE plötzlich kurz nach halb elf eine Schnellbremsung einleitete, es einen Schlag gab, der Zug rumpelte und ruckelte, links und rechts Staub aufwirbelte und der ICE kurz darauf zum Stehen kam (siehe auch Westdeutsche Zeitung).

Daraufhin wurde es still, nur die Klimaanlage summte noch leise vor sich hin. 

ICE Unfall mit Traktor nahe Lippstadt, Polizei SoestNach wenigen Minuten meldete sich (vermutlich) die Zugchefin mit zitternder Stimme, dass wir etwas überfahren hätten und der Zug nun einen längeren Aufenthalt einlegen müsse um kurz darauf zu verkünden, dass wir einen “Bagger” gerammt hätten.

Ich möchte nun gar nichts zum weiteren Hergang (Feuerwehr, Rettungsdienste, etc.) schreiben, sondern eher über die relativ interessante Reaktionen der anderen Reisenden berichten. Aus Verkehrs- und Notfallpsychologischer ist diese nämlich recht interessant ausgefallen.

Ich muss vorausschicken, dass dieser ICE – zumindest in meinem Waggon – vor allem mit älteren Reisenden sowie Familien besetzt gewesen ist. Nach der Notbremsung und den Durchsagen blieb es allerdings erstaunlich ruhig. Daran hat das Zugpersonal sicherlich einen großen Anteil (Großes Lob!), da dieses uns zu jeder Zeit mit aktuellen Informationen versorgt hat (was bei der Bahn ja nicht immer der Fall ist).

Zangenabdruck ICE 1223 Unfall bei Lippstadt am 24.08.2011Zangenabdruck ICE 1223, erhalten wenige Minuten vor dem Unfall

Natürlich waren einige Reisende besorgt, allerdings weniger um sich selbst sondern eher um den Triebfahrzeugführer und den Baggerfahrer (der eigentlich Traktorfahrer ist, was wir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wussten). Erster hat sich übrigens, wie ich später von einer Reisenden, die im Panoramaabteil saß, erfuhr, nach dem Einleiten der Schnellbremsung noch mit einem Sprung aus dem Führerstand retten können. Deswegen ist es auch so verdammt wichtig, diese Türen von Gepäck freizuhalten!

Verrückt gemacht wurden eher die näheren Angehörigen, die nach dem Unfall sofort angerufen wurden um die verspätete Ankunft anzukündigen oder Treffen zu verschieben. Ich vermute, dass viele Fahrgäste sich gar nicht darüber bewusst sind, was die Worte “mein ICE hatte gerade einen Unfall” bei Freunden und Verwandten auslösen können. 

Problematisch wurde es im Fahrgastbereich erst, als nach Abstellen des Stroms weder die Klimaanlage noch die Toilettenspülungen funktionierten. Beschwerden wurden allerdings nicht geäußert. Im Bordbistro verteilte das Personal kostenlose Getränke. Einige Kinder ließen sich sogar dazu hinreißen, in den Gängen Fangen zu spielen was niemand ihnen in dieser Situation verbieten wollte.

Bei der Evakuierung, die auch wieder sehr gesittet und ohne Drängeln ablief, halfen Feuerwehr und DB-Mitarbeiter, die sogar hin und wieder ein Witzchen rissen um die Stimmung aufzuheitern, beim Aussteigen und brachten das Gepäck auf die parallel zur Eisenbahnstrecke verlaufenden Dorfstraße. Für das Notfallmanagement war es jedoch relativ schwierig, in der kurzen Zeit Busse in ausreichender Zahl zu beschaffen. Herr Müntefering enteilte übrigens als Erster in einem Taxi. Manche sind eben doch gleicher als andere. Dies soll aber kein Vorwurf sein. Herr Müntefering hatte schließlich einen wichtigen Termin und wird das Taxi wohl selbst gezahlt haben.

Alle anderen mussten auf offenem Feld in der prallen Sonne auf die Ankunft der Busse warten. Insgesamt hatte die Bahn vier Busse für die Evakuierung des ICEs bestellt, die uns nach Kassel-Wilhelmshöhe bringen sollten. Zwei sollten auf direktem Wege nach Kassel fahren und zwei sollten auch auf den Unterwegshalten bis Kassel halten. Anfangs konnten aber nur drei Busse zur Verfügung gestellt werden, die für die Masse der Reisenden natürlich nicht ausreichten. Etwa 60 mussten länger am verunfallten ICE ausharren. Bus 4 kam erst nach einiger Wartezeit und der zusätzlich benötigte Bus 5 sogar erst nach weit über einer Stunde. Aber auch hier wurden von der Bahn kostenlose Getränke verteilt, damit kein Reisender dehydriert und am Ende noch ohnmächtig wird.

Allerdings wurde wegen der langen Wartezeit erstmals von Seiten der Reisenden die erste Kritik laut, die allerdings abrupt verstummte als wir an der zerstörten Front und dem völlig zerfetzten Traktor vorbeifuhren. Zu diesem Zeitpunkt realisierten viele zum ersten Mal was für ein ungeheures Glück wir hatten. 

Die einzigen beiden Kritikpunkte, die man hätte besser lösen können, waren die mangelhaften Informationen und die nicht vorhandene Betreuung in Kassel. Aber man muss schon froh sein, dass wir alle einen guten Schutzengel hatten und der Zug nicht entgleist ist. Denn das Ganze hätte auch anders ausgehen können…

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Randelhoff Martin

Herausgeber und Gründer von Zukunft Mobilität, arbeitet im Hauptjob im ARGUS studio/ in Hamburg. Zuvor war er Verkehrswissenschaftler an der Technischen Universität Dortmund.
Ist interessiert an innovativen Konzepten zum Lösen der Herausforderungen von morgen insbesondere in den Bereichen urbane Mobilität, Verkehr im ländlichen Raum und nachhaltige Verkehrskonzepte.

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E-Mail: randelhoff [ät] zukunft-mobilitaet.net

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Gerhard Stäger
Gerhard Stäger
10. Oktober 2011 13:58

Hallo, klasse Artikel! Ich würde ihn gerne, zusammen mit dem Erfahrungsbericht des betroffenen Lokführers in unser Triebfahrzeugführer-Portal einstellen. Die Seite ist von der DB-AG für ihre Mitarbeiter und Passwortgeschützt.

Darf ich den Artikel verwenden?

Vielen Dank im Voraus.

Gerhard Stäger

Heinz-W. Wellner
Heinz-W. Wellner
28. August 2011 08:27

Netter Insiderartikel.
Sehe dazu auch D.a.433 – Sepemberausgabe der Dorfzeitung Dedinghausen aktuell.

Trainman
Trainman
26. August 2011 00:53

Vielen vielen Dank für diesen sehr sachlichen und detailierten Bericht! Grade nach einem solchen Erlebnis ist es sicherlich nicht einfach einen solchen Text zu verfassen ohne zu emotional bzw. wertend zu werden und das Ereignis objektiv wiederzugeben. Da könnte so manche “richtige Zeitung” sich eine meterdicke Scheibe von abschneiden!

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Randelhoff Martin

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