Welche Maßstäbe sollen wir bei Investitionsentscheidungen in unsere Verkehrsnetze und das öffentlich bestellte Angebot, den Öffentlichen Verkehr, anlegen? Diese Frage stellen sich immer häufiger Verkehrsplaner und Politiker auf allen Ebenen. Stuttgart 21, der neue Großflughafen Berlin-Brandenburg, aber auch lokale Umstellungen des Busnetzes bringen immer wieder Probleme mit sich. Große Bauprojekte, die viele Leute jahrelang beeinträchtigen, stehen dabei oft im Fokus. Aber auch kleine lokale Entscheidungen werden mitunter recht kontrovers geführt.
Bei einer rein faktenbasierten Entscheidung zählen nur Kosten-Nutzen-Faktoren, Erreichbarkeitsparameter, Lagemaße, das Fundamentaldiagramm des Verkehrsflusses, Spitzenstundenkapazität und vieles mehr. All diese Parameter sind wichtig und haben ihre Berechtigung. Ich persönlich habe in den letzten Monaten in zahlreichen Diskussionen gemerkt, dass diese aus verkehrsplanerischer Sicht durchaus wichtigen Entscheidungsgrundlagen in der öffentlichen Diskussion mehr verwirren als helfen. Oftmals behilft man sich damit, dass man statt Fakten bunte Bildchen präsentiert.
Damit unterschätzt man die Menschen allerdings. Durch Geduld und gute Kommunikation kann man auch schwierige Inhalte erklären und zu einer Akzeptanz verhelfen. Man muss allerdings zunächst das letztendliche Ziel, das verfolgt wird, skizzieren und die Menschen dafür begeistern. Einzelne Bauabschnitte und die damit verbundenen Beeinträchtigungen lassen sich somit viel leichter kommunizieren.
Bruce McCuaig, CEO von Metrolinx, ist verantwortlich für die Verkehrsplanung, den Straßenbau und den öffentlichen Personennahverkehr im Großraum Toronto. Und ist damit zuständig für das drittgrößte öffentliche Nahverkehrssystem Nordamerikas. Zudem war er jahrelang stellvertretender Verkehrsminister im Bezirk Ontario. Auf einer Konferenz über die zukünftige Gestaltung der Verkehrssysteme im Großraum Toronto hat er zehn Grundsätze für eine gute und umfassende Verkehrsplanung, welche die Bevölkerung mitnimmt statt zurückzulassen, vorgestellt. Da diese Grundsätze recht allgemein gehalten sind, sind sie in meinen Augen weltweit anwendbar:
- Es geht immer um Gesamtsysteme – Straßen, ÖPNV und “muskelbetriebenen” Verkehr wie Radverkehr. Die Priorität sollte laut McCuaig auf dem ÖPNV liegen. (Anmerkung: Der ÖPNV sollte konsequent gefördert werden. Allerdings sollte man die Nahmobilität und damit den Fuß- und Radverkehr keinesweg außer Acht lassen.)
- Investitionen müssen sowohl lokal als auch regional durchgeführt werden
- Investitionen müssen einen kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Nutzen haben.
- Geldmittel müsen sowohl in die Instandhaltung als auch in den Ausbau der Verkehrssysteme fließen
- “Gelder dürfen keineswegs nur nach Toronto fließen.” Auch das Umland muss profitieren. Investitionen in das Verkehrsnetz müssen für die gesamte Region oder gar das gesamte Land einen messbaren Vorteil bringen.
- Jeder einzelne Schritt der Planung muss kommuniziert und mit der Bevölkerung diskutiert werden.
- Investitionsstrategien müssen die bestehende Finanzierung ergänzen, nicht ersetzen.
- Der Kunde muss immer im Mittelpunkt stehen.
- Es muss ein Gleichgewicht herrschen. Diejenige, die einen Großteil der Kosten / Einschränkungen tragen, müssen auch den größten Nutzen ziehen.
- Die Einnahmestruktur und die Abrechnungssysteme müssen so einfach wie möglich gestaltet und zu bedienen sein.
Weitere Vorschläge und Anmerkungen eurerseits?
“Jeder einzelne Schritt der Planung muss kommuniziert und mit der Bevölkerung diskutiert werden.”
Ich finde Punkt 6 sehr interessant, denn dieser Punkt wird von den Planern oftmals sehr kritisch gesehen. Die Befürchtung, vor allem Unverständnis und endlose Diskussionen zu ernten, resultieren aus dem Glauben, dass dem normalen Bürger das Gesamtbild fehlt und er – verständlicherweise – sehr starke Partikularinteressen hat.
Wenn also jeder Schritt diskutiert bzw. kommuniziert werden soll, so die Befürchtung, dann wird man die Planungsphasen zeitlich sehr stark ausdehnen müssen, was wiederrum eine Erhöhung der Kosten zur Folge hat usw.
Gibt es denn konkrete Vorschläge oder Modelle, wie man dieser Befürchtung der Planer ohne eine Kostenexplosion entgegen wirken kann?
Eine Möglichkeit auf kommunaler Ebene ist die gründliche Ausarbeitung eines Verkehrsentwicklungsplanes / verkehrspolitischen Leitbildes. Dann sind die Richtung der Entwicklung des Verkehrssystemes als Ganzes klar. So wird nicht bei jeder kleinen Baumaßnahme eine Grundsatzdiskussion zwischen den Auto- und ÖPNV-Lobbyisten geführt. Das kosstet viel mehr Zeit und Geld. Ein abschreckendes Beispiel ist die Königsbrücker Straße in Dresden.
Bei der Ausarbeitung kann ein Runder Tisch hilfreich sein, an dem neben den Parlamentariern und der Verwaltung auch Bürgerinitiativen und Verbände gleichberechtigt beteiligt sind. Die Moderation sollte nicht von der Verwaltung, sondern einer unabhängigen Person erfolgen.
Das große Problem ist, dass oftmals keine wirklich neutralen Personen zur Verfügung stehen. Irgendwer muss diese Leute immer bezahlen. Im Grunde genommen wäre die Verwaltung dafür zuständig und dürfte nicht nach parteipolitischen Interessen handeln und agieren. In der Praxis ist das natürlich nicht der Fall, da allzu gerne Leitungspositionen mit gewogenen Personal aus der eigenen Partei bestückt werden.
Die einzige Chance wäre eine gesetzliche Regelung, die klare Regeln und Richtlinien für die Information und das Mitspracherecht der Bevölkerung definiert, die notfalls einklagbar sind. Ansonsten ist das ein recht willkürlicher Prozess, den eine Kommune entweder gar nicht oder nur in ihrem Sinne durchführen kann.
Gruß,
Martin
Ich persönlich bin ja der Meinung, dass eine ordentliche Kommunikation um ein Vielfaches günstiger wäre als x Gerichtsverfahren und jahrelange Verzögerungen. Aber natürlich ist das bei den heutigen Entscheidungsprozessen eher ungünstig, da die Planungskosten vor Entscheidung durch die Politik höher liegt als ohne ordentliche Kommunikation. Nachträgliche Verzögerungen und vor allem die damit verbundenen Kostensteigerungen muss die Politik gezwungenermaßen genehmigen. Dies sorgt allerdings wiederum für einen großen Unmut in der Bevölkerung.
Ich finde das Schweizer Modell allerdings sehr interessant, bei dem die Bevölkerung vorab mehrmals aufgeklärt wird und Vorschläge machen kann bevor überhaupt der eigentliche Planungsprozess mit allen Genehmigungsverfahren beginnt. Da lassen sich vorab einige Probleme lösen, bzw. entstehen erst gar nicht.
Gruß,
Martin