Dies ist ein Gastartikel von Michael Bienick. Bitte lesen Sie auch seinen Artikel „Der Eurocity „Wawel“ – Ein Trauerspiel deutsch-polnischer Bahnkooperation“, erschienen im Juli 2014 in diesem Blog. Wenn auch Sie Interesse haben, hier einen Gastartikel zu veröffentlichen, dann schreiben Sie uns bitte.
Rückblickend auf das vergangene Jahr 2014 gab es in diesem ein besonderes Jubiläum: 20 Jahre Bahnreform in Deutschland. Jenes Jubiläum stand im vergangenen Jahr vielfach im Fokus von Fachmedien und Bahnexperten. Neben den nicht gerade wenigen schweren Strickfehlern der Bahnreform, die bis heute insbesondere in Bereichen wie der vielfach vernachlässigten Infrastruktur und dem Fernverkehr nachwirken – und mit denen sich einige Publikationen ausführlicher und tiefgreifender befassen1 – gibt es im regionalen Bereich auch Lichtblicke. Diesen Lichtblicken – am Beispiel des Raumausschnitts der Grenzregion Aachen – ist dieser Artikel gewidmet.
Während manche die Chancen verschliefen, nutzten in den vergangenen 20 Jahren diverse Regionen die Möglichkeiten, die die mit der Bahnreform eingeläutete Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) boten2. Besonders ins Auge fällt dabei unter anderem die Region Aachen (Städteregion Aachen sowie Kreise Düren und Heinsberg), innerhalb derer ab 1996 der Aufgabenträger Aachener Verkehrsverbund (AVV) sowie später ab 2008 der Nahverkehr Rheinland (NVR) konsequent die Attraktivierung und Reaktivierung des regionalen Schienenverkehrs vorantrieben. Eng verknüpft mit diesem Erfolg sind der ehemalige AVV- (später NVR-) Geschäftsführer Hans-Joachim Sistenich und dessen Team3, ohne deren beherztes Engagement eine solche Entwicklung wohl nicht möglich gewesen wäre.
SPNV in der Region Aachen vor der Regionalisierung
Bevor jene Akteure den SPNV zukunftsgerecht ausbauen konnten, zeichnete sich die Bundesbahndirektion Köln zuständig für die Region Aachen. Diese verfolgte insbesondere in den 1980er Jahren eine bürokratisch ausgerichtete Rationalisierungsstrategie: Folge war eine Abwärtsspirale mit flächenhaften Streckenstilllegungen bzw. dem schrittweisen Ersatz von SPNV durch bahneigene Busverkehre. Dabei wurden selbst größere Mittelzentren, wie beispielsweise die Kreisstadt Heinsberg vom SPNV abgehängt. Auch Städte wie Hückelhoven, Wassenberg oder Alsdorf verloren ihren Bahnanschluss. Das Mittelzentrum Jülich – einst ein Eisenbahnknoten, von dem in sieben Richtungen gereist werden konnte, war ab 1983 lediglich noch von Düren aus erreichbar.
Mit Blick über den Tellerrand wurden damals in anderen Regionen teilweise weit weniger Städte vom Bahnnetz abgehangen oder andere Bundesbahndirektionen erprobten bzw. entwickelten sogar erste sehr erfolgreiche Kunden-gewinnende Konzepte, z. B. im Allgäu oder in Schleswig-Holstein. Die massiven Stilllegungen in der Region Aachen lassen sich dennoch nicht einfach und pauschal der Geschäftsstrategie der Bundesbahn zuschreiben, sondern waren vor allem Ausdruck und Folge einer Verkehrspolitik, die zu der Zeit primär auf den motorisierten Individualverkehr setzte.
Bereits vor dem Beschluss der Bundesregierung zur Bahnreform (1994) und damit zur Regionalisierung des SPNV gab es jedoch auch in der Region Aachen einige Versuche seitens der Bundesbahn, den Verkehr auf den Hauptstrecken über die Einführung von Taktverkehren (RegionalSchnellBahn) zu verbessern. Ebenfalls in die Zeit vor der Bahnreform fallen erste hoffnungsvolle Ansätze im Kreis Düren seit Übernahme, Sicherung und Revitalisierung der nördlichen und südlichen Rurtalbahnstrecken durch die Dürener Kreisbahn (DKB) ab 1992, was als Vorreiterprojekt für die Regionalisierung gesehen werden kann.
Zweckverband AVV übernimmt die Aufgaben- und Finanzverantwortung für den SPNV
1996 trat schließlich das Regionalisierungsgesetz in NRW in Kraft. Fortan übernahm der Zweckverband Aachener Verkehrsverbund (AVV) die Aufgaben- und Finanzverantwortung für den SPNV in der Region Aachen. Ideen zur Renaissance der Schiene blühten auf und wurden in klugen Konzepten konkretisiert. Ein Baustein war zunächst das Schließen von Rahmenverträgen zur Übernahme und Sicherung von gefährdeten DB-Güterstrecken, so konnten 1999 zahlreiche Strecken durch das private Eisenbahninfrastrukturunternehmen Euregio Verkehrsschienennetz GmbH (EVS) übernommen werden. Gleiches geschah Ende 2012 mit der ehemaligen DB-Strecke Lindern – Heinsberg, die ins Eigentum der kommunalen West Energie und Verkehr GmbH überging.
Ab 2001 gingen die Reaktivierungsprojekte in die konkrete Umsetzung. Dabei gab es ein gut funktionierendes Zusammenspiel zwischen Aufgabenträger, Verkehrsunternehmen, regionalen Eisenbahninfrastrukturunternehmen und der Politik. Die bisherige Erfolgsbilanz mit fünf reaktivierten Bahnstrecken, einer Nebenbahn-Neubaustrecke, dichtem SPNV-Taktverkehr, 31 neuen Bahnhöfen bzw. Haltepunkten (wohnortnah, modern, barrierefrei) kann sich gut sehen lassen. Strategisch setzte man dabei auf eine „Salamitaktik“, bei der die Strecken zum Teil scheibchenweise – je nach der Verfügbarkeit von Fördermitteln – reaktiviert wurden. Bis heute haben wieder (fast) alle größeren Mittelzentren in der Region Aachen einen SPNV-Anschluss.
Zeitschiene Bahnreaktivierungen und Neubaustrecken:
2001: erste Reaktivierung im Rahmen des euregiobahn-Projektes:
• Stolberg Hbf – Stolberg-Altstadt
2002: Verlängerung bzw. Reaktivierung der nördlichen Rurtalbahn:
• Jülich – Linnich
2004: weitere Reaktivierungen im Rahmen des euregiobahn-Projektes:
• Stolberg Hbf – Eschweiler Talbahnhof – Weisweiler
• Herzogenrath – Merkstein
2005: Verlängerung der euregiobahn-Strecke nach Alsdorf:
• Merkstein – Alsdorf-Annapark
2009: erste Neubaustrecke im Rahmen des euregiobahn-Projektes und Schnellfahrstrecke für den Fernverkehr:
• euregiobahn-Lückenschluss: Weisweiler – Langerwehe (Neubaustrecke)
• Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke: Aachen – Lüttich
2011: Verlängerung der euregiobahn-Strecke nach Alsdorf-Begau:
• Alsdorf-Annapark – Alsdorf-Poststraße
2013: Inbetriebnahme der reaktivierten und elektrifzierten Wurmtalbahn:
• Lindern – Heinsberg
2014: Verlängerung der euregiobahn-Strecke nach Eschweiler-St. Jöris:
• Alsdorf-Poststraße – Eschweiler-St. Jöris
Wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten
Doch wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten: Dass die erfolgreiche Entwicklung scheinbar auch spurlos an einer Kommune vorbeiziehen kann, beweist die frühere Zechenstadt Hückelhoven: Die Stadt ließ dort 2012 eine acht Kilometer lange elektrifizierte Eisenbahnstrecke, die zuletzt nur noch dem Güterverkehr diente, theoretisch aber einen Großteil der 38.000 Einwohner ans SPNV-Netz hätte anschließen können, abreißen. Die stillgelegte Strecke soll nach den Plänen der Verwaltung entwidmet und von einer neuen Landstraße überbaut werden, wogegen sich vor Ort erheblicher Bürgerprotest formiert4.
Zu den großen Schattenseiten innerhalb der letzten 20 Jahre zählt auch der massive Niedergang des Fernverkehrs in der Region Aachen, was in einem starken Widerspruch zu den erheblichen Investitionen in die Ausbau- bzw. Hochgeschwindigkeitsstrecken entlang der Achse Paris – Bruxelles – Aachen – Köln steht. Insbesondere der Verlust zahlreicher Eurocity-, Intercity- und Interregio-Verbindungen hinterlassen in der Region bis heute große Löcher im Fernverkehrsangebot (vgl. Tabellen 1-2).
Tab. 1: Entwicklung des Fernverkehrs (1994 – 2014) auf der Bahnstrecke Aachen – Mönchengladbach (KBS 485)
Jahr | Angebot im Fernverkehr |
---|---|
1994 |
|
1999 |
|
2004 | - |
2009 | - |
2014 |
|
Tab. 2: Entwicklung des Fernverkehrs (1994 – 2014) auf der Bahnstrecke Lüttich – Aachen – Köln (KBS 480)
Jahr | Angebot im Fernverkehr |
---|---|
1994 |
|
1999 |
|
2004 |
|
2009 |
|
2014 |
|
Reaktivierungen als Erfolg der „Macher vor Ort“ – und nicht der Bahnreform
Der Rückblick auf die vergangenen 20 Jahre zeigt, dass die Bahnreform und mit ihr die Regionalisierung einen rechtlichen und finanziellen Rahmen (Regionalisierungsmittel) bot für Erfolge vor Ort: So war es möglich, dass „Macher vor Ort“ Innovationen wie die erfolgreichen Regionalbahn-Projekte Rurtalbahn, Euregiobahn und Wurmtalbahn umsetzen konnten. Jedoch nicht die Bahnreform per se, sondern vielmehr die besondere Akteurs-Konstellation, geschicktes, engagiertes, kontinuierliches und zielgerichtetes Handeln führten letztlich zum Erfolg. Die Bahnreform hinterlässt dabei bis heute erhebliche Fehler, insbesondere mit Blick auf ein intransparentes und teures Trassen- und Stationspreissystem der DB Netz AG, welches den finanziellen Handlungsspielraum der Aufgabenträger zunehmend einschränkt. Die zentrale Zukunftsfrage ist hierbei: Wie lässt sich weiterhin ein gutes SPNV-Angebot finanzieren und gleichzeitig die hier skizzierte Erfolgsgeschichte fortsetzen?
Aktualisierung – 17.08.2015
Karten durch neue Version mit Überschriften ersetzt
- zum Beispiel: Wolf, W./Knierim, B. (2014): Bitte umsteigen: 20 Jahre Bahnreform. Stuttgart: Schmetterling-Verlag. ↩
- Fliegenbaum, W./Klee, W. (2001): Rückkehr zur Schiene. Reaktivierte und neue Strecken im Personenverkehr 1980 – 2001. Stuttgart: transpress. ↩
- Kals, U. (2013): Unter Dampf für Bus und Bahn: AVV-Chef Sistenich. Aachener Zeitung vom 13.12.2013 <http://www.aachener-zeitung.de/lokales/region/unter-dampf-fuer-bus-und-bahn-avv-chef-sistenich-1.717838#plx582720574>, abgerufen am 29.12.2014. ↩
- Preis, C. (2012). Bahnexperte widerspricht Stadt. Rheinische Post vom 9.06.2012 <http://www.rp-online.de/nrw/staedte/kreis-heinsberg/bahnexperte-widerspricht-stadt-aid-1.2863605> , abgerufen am 29.12.2014. ↩
Ja, AC ist wirklich abgehängt vom Fernverkehr. Auch der Thalys ist durch die Buchungsrestriktionen so gut wie nicht nutzbar und wirklich teuer. Hinzu kommen ungünstige Umstiege in Köln. Nachbarstädte von Ac, wie Würselen (38.000 Einwohnern) haben reine Busverbindungen in die Stadt, für 9 km braucht der Bus fast eine Stunde zum HBF in AC, und dann ist er noch so getaktet, dass die Züge nach / von Köln keinen Anschluss haben. Extrem unattraktiv. Abends fährt besagter Bus übrigens 1x pro Stunde, auf ihn muss man wiederum fast eine Stunde aus Köln kommend warten. Es ist verkorkst, leider.
Ach, den Köln-Ostende-Zug vermisse ich immer noch schmerzlich. War für mich praktisch für den Heimatbesuch (Ostbelgien) und Stippvisiten der Küste…