Der Bau von Radverkehrsinfrastruktur wird hin und wieder sehr kontrovers diskutiert. Insbesondere wenn die Baumaßnahmen die Umverteilung von Straßenraum zugunsten des Radverkehrs beinhalten. Der Wegfall von Parkplätzen, die Verengung eines Fahrstreifens oder eine Umwandlung derselben zugunsten von Radwegen, Radfahrstreifen oder Schutzstreifen gehen oft Protesten und Widerstand einher. Oftmals wird dabei das Argument angeführt, dass der Radverkehr den Autoverkehr ausbremse, wenn ein Fahrstreifen wegfiele. Doch ist dies wirklich so? Welche Wirkung hat die Anlage von Radfahrstreifen und Schutzstreifen in einem Straßenzug auf den motorisierten Individualverkehr?
Im Rahmen einer Studie der University of Virginia1 haben Conrad Gosse und Andres Clarens die Wirkung von Radfahrstreifen auf die Geschwindigkeit des motorisierten Verkehrs analysiert.
Hierfür wurden vier Szenarien für eine zweispurige Straße innerorts modelliert:
- eine Straße ohne Radfahrstreifen und einem Radverkehrsanteil von 1%.
- eine Straße mit Radfahrstreifen und einem Radverkehrsanteil von 1%.
- eine Straße ohne Radfahrstreifen und einem Radverkehrsanteil von 10%.
- eine Straße mit Radfahrstreifen und einem Radverkehrsanteil von 10%.
Das größte Stauaufkommen und die größten Reisezeitverluste des MIV waren in Szenario C zu verzeichnen. Bei Vorhandensein entsprechender Radverkehrsinfrastruktur konnten breite Kfz, wie beispielsweise Busse, weiterhin überholen. Dies spielte insbesondere bei Straßen mit Steigung eine Rolle.
Die Zeitverluste sind proportional zur Geschwindigkeitsdifferenz zwischen motorisiertem Verkehr und Radverkehr.
Die Existenz von Radfahrstreifen beeinflusst die Fahrzeit des motorisierten Verkehrs positiv. Je größer der Radverkehrsanteil ist, desto stärker sind die Fahrzeitgewinne für bspw. den Pkw-Verkehr.
Ein wachsender Radverkehrsanteil ohne die Schaffung von adäquater Infrastruktur und Zuweisung von Flächen bremst sowohl den Radverkehr wie auch den motorisierten Verkehr aus. Städte mit einem wachsenden Radverkehr sollten daher auch zum Wohle des fließenden Verkehrs Flächen umverteilen und Radverkehrsinfrastruktur schaffen.
Die Ergebnisse aus der Simulation konnten bei der Evaluierung mehrerer Radverkehrsinfrastrukturprojekte bestätigt werden. In New York City verbesserte sich neben der Verkehrssicherheit auch der Verkehrsfluss des motorisierten Verkehrs nach dem Umbau mehrerer Straßen.
Die Columbus Avenue wurde in den Jahren 2010 – 2011 zwischen der 96. Straße bis zur 77. Straße umgebaut. Die Zahl der Fahrspuren wurde von fünf auf vier verringert. Diese wurden zudem von 12 Fuß (3,66 m) auf zehn Fuß (3,05 m) verengt. Der gewonnene Raum konnte für die Anlage eines Parkstreifens sowie eines Radwegs zuzüglich Sicherheitstrennstreifen genutzt werden.
Vor dem Umbau benötigte ein Pkw für die 0,96 Meilen lange Strecke zwischen der 96. Straße und der 77. Straße 4,38 Minuten. Nach dem Umbau nur noch 3:00 Minuten, eine Fahrzeitreduktion von 35 Prozent. Und dies bei nahezu gleichbleibendem Verkehrsaufkommen.
Die 8th Avenue wurde zwischen der 23. Straße und der 34. Straße umgestaltet. Nach einem ersten Umbau in den Jahren 2008 und 2009 waren vier Fahrstreifen, ein Parkstreifen, ein Hybrid-Streifen (zur morgendlichen Hauptverkehrszeit befahren, ansonsten Parken) und ein baulich nicht getrennter Radfahrstreifen vorhanden. Nach dem Umbau waren bis auf Ausnahme des Hybrid-Streifens alle Fahrstreifen in ihrer Funktion erhalten, jedoch verengt.
Nach dem Umbau konnten neben Verbesserungen für die Verkehrssicherheit ebenfalls Zeitgewinne für den motorisierten Individualverkehr festgestellt werden. Über den Tag hinweg ist die Fahrzeit zwischen der 23. und der 34. Straße (Distanz 0,54 Meilen) um 14 Prozent von 4:20 Minuten auf 3:43 Minuten gesunken. In der morgendlichen Hauptverkehrszeit (7 Uhr – 10 Uhr) sank die Fahrzeit um 13 Prozent von 2:47 Minuten auf 2:25 Minuten, zwischen 10 – 14 Uhr um 21 Prozent von 6:01 Minuten auf 4:44 Minuten und zur abendlichen Hauptverkehrszeit zwischen 16 Uhr und 19 Uhr um 13 Prozent von 3:38 Minuten auf 3:10 Minuten.
Im Juni 2010 wurde Prospect Park West umgestaltet. Statt vormals drei Fahrstreifen stehen dem motorisierten Verkehr nun zwei Fahrstreifen zur Verfügung, die beiden Parkstreifen wurden erhalten. Neu hinzugekommen sind ein bidirektionaler Radweg mit Sicherheitstrennstreifen, mehrere Ladezonen sowie Fußgängerinseln. Die Zahl der Radfahrer wuchs an Werktagen von 349 auf 1.131 im August, 1.043 im September, 1.010 im Oktober und 863 im November. Im Schnitt stieg die Zahl der Radfahrer um 190 Prozent. Am Wochenende stieg die Zahl der Radfahrer von vorher 790 auf 1.719 im August, 1.727 im September, 1.813 im Oktober und 1.838 im November. Im Schnitt stieg die Zahl der Radfahrer um 125 Prozent.
Das Verkehrsaufkommen des motorisierten Verkehrs blieb auch nach den Umbaumaßnahmen stabil, eine Verlagerung auf andere Straßen fand nicht statt:
Die Fahrzeit veränderte sich kaum merklich und blieb stabil. In der morgendlichen Hauptverkehrszeit stieg die Fahrzeit um sieben Sekunden von 02:35 Minuten auf 02:42 Minuten. Mittags sank die Fahrzeit von 02:54 Minuten um zehn Sekunden auf 02:44 Minuten, abends blieb sie mit 02:59 Minuten nahezu stabil zum Vorher-Fall mit 03:03 Minuten (4 Sekunden Differenz).
Die Auslastung der einzelnen Fahrstreifen stieg an, blieb jedoch weiterhin weit unter der Kapazitätsgrenze mit Stauerscheinungen:
Der Wegfall einer Fahrspur und die daraus folgende höhere Auslastung hatten eine geschwindigkeitsdämpfende Wirkung, die sich in einer höheren Verkehrssicherheit, jedoch nicht in Fahrzeitverlängerungen äußert (siehe Fahrzeitmessungen).
Vor den Umbaumaßnahmen wurde die Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 mph (48,3 km/h) von 76,0% der Autofahrer überschritten. Die durchschnittliche gefahrene Geschwindigkeit betrug 34,1 mph (54,9 km/h). Die Messung erfolgte am Mittwoch, den 25.03.2009 zwischen 08:20 – 08:30 Uhr.
Nach den Umbaumaßnahmen wurde die Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 mph (48,3 km/h) nur noch von 11,0% der Autofahrer überschritten. Die durchschnittliche gefahrene Geschwindigkeit betrug 25,1 mph (40,4 km/h). Die Messung erfolgte am Donnerstag, den 01.07.2010 zwischen 08:30 und 08:45 Uhr.
Die zulässige Höchstgeschwindigkeit wird weitaus häufiger eingehalten, die Verkehrssicherheit steigt. Durch die Anpassung der Geschwindigkeiten ist der Verkehrsfluss homogener, kann folglich besser fließen.
Auch bei einer erheblichen Veränderung der Raumaufteilung und zur Verfügung stehenden Fahrstreifen konnten keine gravierenden Verschlechterungen für den motorisierten Individualverkehr festgestellt werden.
Die 1st Avenue wurde im Jahr 2010 von der 1st Street bis zur 34th Street umgestaltet. Die vormals fünf Fahrstreifen wurden zugunsten einer Busspur sowie eines baulich getrennten Radwegs auf drei reduziert. Die beiden Parkstreifen blieben erhalten.
Trotz der starken Veränderung blieb die Reisezeit nahezu konstant. Die auf Basis von Taxidaten ermittelte gefahrene Durchschnittsgeschwindigkeit sank von etwa 13 mph (21 km/h) um etwa 1 mph (1,6 km/h) auf 12 mph (19,3 km/h).
Die durchschnittlich von Taxis gefahrene Geschwindigkeit Manhattan Central Business District (Manhattan bis zur 86. Straße) blieb trotz zahlreicher Straßenumbauten, Verkehrsberuhigungsmaßnahmen und Errichtung neuer Radwege seit 2007 nahezu konstant.
Das Beispiel New York City zeigt, dass die Anlage von Radfahrstreifen und Radwegen die Verkehrssicherheit erhöht und den Radverkehr als umweltverträgliche Verkehrsart fördert, ohne den motorisierten Verkehr auszubremsen.
Auch in New York City haben sich einige Autofahrer über die Veränderungen beschwert. In einigen Fällen gaben Fahrer an, dass der Verkehr aus ihrer Sicht langsamer fließe. Laut Verkehrsbehörde war hierfür jedoch oftmals der Grund, dass angenommen wurde, dass der Verkehr aufgrund der Veränderungen (weniger Fahrstreifen) langsamer fließen müsse. Die Stadt konnte diese subjektiven Wahrnehmungen jedoch mit den gesammelten Daten in den meisten Fällen entkräften.
In der kanadischen Stadt Toronto wurden neu angelegte Radwege entlang der Simcoe Street, der Richmond Street und der Adelaide Street evaluiert. Auf der Richmond und Adelaide Street sind jeweils ein Fahrstreifen zugunsten eines Radfahrstreifens weggefallen, auf der Simcoe Street wurde die Kapazität für den motorisierten Individualverkehr ebenfalls reduziert und zwischen Front und Wellington Street die Einbahnstraßenregelung aufgehoben.
Für die Richmond Street und Adelaide Street wurden die Fahrzeiten vor und nach Installation der Radfahrstreifen erhoben. Die Vorab-Daten wurden am 17.06.2014 erhoben, die Nachher-Daten am 25. und 26.02.2015.
Die erhobenen Fahrzeiten des motorisierten Individualverkehrs entlang der Richmond Street und der Adelaide Street zeigen eine allgemeine Verbesserung für die meisten Zeitabschnitte. Nur auf der Adelaide Street ist während der abendlichen Hauptverkehrszeit ein Anstieg der Fahrzeit zu erkennen. Ursache hierfür sind zwei Fahrten, welche mit 14:10 und 11:53 Minuten eine signifikant höhere Fahrzeit aufweisen als alle anderen Fahrten zur abendlichen Hauptverkehrszeit auf der Adelaide Street.
Die geringeren Fahrzeiten dürften insbesondere mit der Anpassung der LSA-Schaltungen sowie einer aktiven Durchsetzung von Parkverboten und Strafen für Parken in zweiter Reihe zusammenhängen.
Ein Vergleich der Vorher- / Nachher-Daten zeigt, dass die Schaffung von Radfahrstreifen keinen signifikanten Einfluss auf die Fahrzeit des motorisierten Verkehrs entlang der beiden betrachteten Straßenabschnitte hat.
Eine Analyse der Volume-Demand-to-Capacity Ratio (V/C ratio, Verhältnis von Verkehrsstärke und Straßenkapazität) für Straßenzüge mit Radwegen in Minneapolis kommt zu folgenden Ergebnissen. Je näher sich ein Wert 1,0 annähert, desto stärker ist das Stauaufkommen. Bei Werten zwischen 0,5 und 0,75 nimmt die Verkehrsmenge so weit zu, dass der Verkehr weiterhin rollt, ein freier Wechsel zwischen einzelnen Fahrstreifen jedoch nicht immer möglich ist. Bei einem Auslastungsgrad von bis zu 0,75 spricht man von ungebundenem Verkehr oder freier Fahrt (Qualitätsstufen A bis C). Bei Werten zwischen 0,75 – 0,9 tritt Stau auf, der die Reisezeit negativ beeinflusst (gebundener Verkehr (Qualitätsstufe D)). Bei einem Wert zwischen 0,9 und 1,0 ist die Funktion der Straße erheblich eingeschränkt, es handelt sich um zäh fließenden Verkehr (Qualitätsstufe E). Ab einer Auslastung von 1,0 herrscht Stau (Qualitätsstufe F).
Die Wirkung des Wegfalls eines Fahrstreifens zugunsten eines Radfahrstreifens ist eindeutig: Die Auslastung während der Hauptverkehrszeit steigt an. Ein Anstieg von 30% auf 62% wie im Falle der 19th Ave. S geht mit einer weitaus besseren Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Flächen einher (Flächeneffizienz steigt), jedoch werden Fahrstreifenwechsel schwieriger. Die gefahrenen Geschwindigkeiten der einzelnen Verkehrsteilnehmer gleichen sich an, der Verkehrsfluss homogenisiert sich.
In Deutschland wird aus Gründen der Effizienz angestrebt, einen Auslastungsgrad von 0,40 bis 0,60 zu erreichen. Mit Ausnahme der 19th Ave. S würden alle Straßen in Minneapolis trotz der weggefallenen Fahrspur deutsche Qualitätskriterien erfüllen. Die Überschreitung der 19th Ave. S ist minimal und daher vertretbar.
Der Wegfall von Fahrstreifen zugunsten des Radverkehrs erzeugt keinen zusätzlichen Stau, wenn diese Maßnahme in den richtigen Straßen durchgeführt wird. Ein Großteil der Straßen in Deutschland ist großzügig dimensioniert und bietet auch in der Hauptverkehrszeit ausreichend Kapazität, sodass durch die Umbauten die Qualitätsstufen D-F nicht erreicht werden.
Diskussion / Fazit
Die Entscheidung, Flächen des motorisierten Verkehrs dem Radverkehr zuzuschlagen, unterliegt stets einer Abwägung. Auf der einen Seite steht eine wachsende Verkehrsart, die aufgrund der fehlenden Knautschzone besonders schutzbedürftig ist und zudem keine negativen Effekte, wie lokale Luftschadstoffemissionen oder Lärm mit sich bringt. Auf der anderen Seite stehen geringe Zeitverluste für den motorisierten Verkehr, die sich auf einen Kilometer im unteren Sekundenbereich bewegen und oftmals gar nicht spürbar sind bzw. subjektiv übertrieben wahrgenommen werden.
Es erscheint notwendig, dass Kommunen in Deutschland in Zukunft die Anlage von Radfahrstreifen, u.ä. ebenfalls evaluieren und die entsprechenden Daten ähnlich wie in den USA der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Die objektiv gemessenen Werte zeigen eine äußerst geringe Verschlechterung für den motorisierten Individualverkehr (Zeitverluste), der große Verbesserungen für den nicht-motorisierten Verkehr gegenüberstehen.
Bei einem Radverkehrsanteil von über zehn Prozent am Gesamtverkehrsaufkommen kann das Fehlen von Radverkehrsinfrastruktur in hoher Qualität größere Zeitverluste für den motorisierten Individualverkehr erzeugen, da ein regelkonformes Überholen von Radfahrern insbesondere für breitere Fahrzeuge wie Busse oder Lkw nicht möglich ist.
Meinung
In den Niederlanden haben viele Autofahrer verstanden, dass Radfahrer ein schnelleres Vorankommen für sie selbst bedeuten. Jeder Pkw weniger auf der Straße verringert das Verkehrsaufkommen und somit die Stauanfälligkeit städtischer Infrastruktur. Es ist an der Zeit das Verkehrssystem als Gesamtsystem zu betrachten und nicht nur isoliert auf einzelne Verkehrsarten oder Verkehrsträger zu blicken.
Ziel sollte eine für alle Verkehrsteilnehmer sichere Verkehrsinfrastruktur sein, die die Erreichbarkeit und Mobilität garantiert. Der Radverkehr ist ebenso wie der Fußverkehr, der ÖPNV und der Pkw ein wichtiger Baustein in der innerstädtischen Mobilität. Die Belange aller Verkehrsteilnehmer sollten in die Abwägung und politische / öffentliche Diskussion einfließen. Hierfür ist es jedoch notwendig, auf Basis von Daten und nicht von Gefühlen zu argumentieren und die bestmögliche Lösung zu finden.
- Gosse, Conrad; Clarens, Andres 2013: Quantifying the total cost of infrastructure to enable environmentally preferable decisions: the case of urban roadway design, Environ. Res. Lett. 8 015028 doi:10.1088/1748-9326/8/1/015028 ↩