Dies ist ein Gastartikel von Martin Hinteregger. Wenn auch Sie Interesse haben, hier einen Gastartikel zu veröffentlichen, dann schreiben Sie mir bitte.
Hintergrund
Stadt- und Verkehrsplanung hat etwas Selbstverständliches an sich. Die durchschnittliche Stadtbewohnerin denkt nur selten über die Linienführung „ihrer“ Straßenbahnlinie nach. Sie ist einfach so, wie sie ist. Der durchschnittliche Stadtbewohner macht sich keine weiteren Gedanken, wenn er das lokale Bikesharing-System für die erste halbe Stunde kostenlos benutzen kann. Es wurde vor ein paar Jahren mit diesem Schema eingeführt und seitdem ist es eben Bestandteil der alltäglichen Mobilität. Unser modernes Leben wäre auch kaum bewältigbar, wenn wir uns jeden Tag aufs Neue mit unserem Umfeld vertraut machen müssten und nicht einfach gewisse Handlungsroutinen befolgen würden. Es macht sich eine gewisse Betriebsblindheit breit und das ist auch in Ordnung so.
Sehr wohl denken wir aber über all diese Dinge nach, wenn wir neu in einer Stadt sind. Dann fällt uns auf, wenn wir an einer Durchschnittskreuzung nur 20 Sekunden auf Grün warten statt 60. Wir freuen uns, wenn die Straßenbahn auch in der Stoßzeit pünktlich unterwegs ist. Es kommt uns mitunter merkwürdig vor, wenn die automobilen Mitmenschen so auffallend zuvorkommend gegenüber uns Radfahrenden sind. Auf Städtereisen lernen wir beispielsweise viele verschiedene Arten und Weisen kennen, wie sich unterschiedliche Planungs- und Mobilitätskulturen manifestieren. Allerdings kratzen wir bei einem mehrtägigen Aufenthalt auch nur an der Oberfläche und kommen kaum mit dem „echten Leben“ dieser Stadt in Berührung. Und natürlich sind dann auch die Erfahrungen, die wir z.B. mit der Organisation des Fußverkehrs oder der Betriebsqualität des öffentlichen Verkehrs machen, nicht repräsentativ für die Stadt als Ganzes. Sehr viel näher kommen wir dem, wenn wir für längere Zeit in einer anderen Stadt leben und uns täglich in ihr bewegen. Ganz automatisch stellen wir dann Vergleiche an. Wir fragen uns, warum es sich da so viel angenehmer zu Fuß gehen lässt als daheim oder wundern uns, dass sie dort die Radwege irgendwie eigenartig gestalten. Wir bringen von zuhause andere Perspektiven und Maßstäbe mit und beurteilen dieselben Tatsachen mitunter ganz anders als Einheimische, für die das eben der Normalzustand ist.
Eine der besten Möglichkeiten, eine andere Stadt, ein anderes Land besser kennenzulernen, ist ein universitäres Austauschsemester. Der strukturierte Ablauf macht Planung und Organisation relativ unkompliziert und Stipendien sorgen dafür, dass diese Möglichkeit der Horizonterweiterung für Studierende aus weiten Teilen der Bevölkerung erschwinglich ist. Für mich ist es bereits das zweite Austauschsemester. Das Sommersemester 2017 habe ich in Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands verbracht. Im vergangenen Wintersemester 2019/20 war ich in der Schweiz, in Zürich. Einer der ausschlaggebenden Gründe für diese Wahl war tatsächlich der Umstand, dass die Schweiz als Musterland des öffentlichen Verkehrs gilt. Dementsprechend bietet die ETH Zürich, meine Gastuniversität, eine Vielzahl an hochkarätigen Kursen in Verkehrswissenschaften und verwandten Disziplinen an. Als Student der Verkehrsplanung mit besonderem Interesse für öffentlichen Verkehr hat mich das überzeugt und so konnte ich von September 2019 bis Februar 2020 Zürich mein Zuhause nennen.
Öffentlicher Verkehr – eine Schweizer Domäne
Nicht zu Unrecht gilt der öffentliche Verkehr als eine der Säulen des Schweizer Nationalstolzes. Die ebenfalls neu angekommenen internationalen KollegInnen waren durch die Bank begeistert, wie einfach es in der Schweiz ist, ohne eigenes Fahrzeug von A nach B zu kommen – gerne auch über C und D. Der Ballungsraum Zürich ist da natürlich keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Dichte, Geschwindigkeit, Intervalle, Pünktlichkeit – alles tadellos.
Herausragend ist die Vielfalt der Nahverkehrsmittel: Die S-Bahn, die mit ihrem dichten Netz und vielen Stationen auch innerhalb der Stadt intensiv genutzt wird und so die Aufgaben einer U-Bahn gleich mit übernimmt. Straßenbahn- (Tram) und O-Bus-Linien (Trolleybus) bilden die zweite Ebene des Angebots und sorgen sowohl für die Verbindung unterschiedlicher Stadtteile als auch für flächige Anbindung der Quartiere. Reguläre Busse übernehmen in der Regel die Feinversorgung. Dazu gibt es Fähren am Zürichsee, Standseilbahnen und eine Zahnradbahn. So ist die ganze Stadt mit einem dichten öffentlichen Verkehrsnetz überzogen, welches Zugangswege so kurz wie möglich macht. Und natürlich sind alle Linien im Tarifverbund integriert, man kann also mit einem regulären Ticket alle Verkehrsmittel benutzen. Die Preise für Einzel- und Langzeitfahrscheine sind recht hoch (für die zentrale Zone: Stundenticket 4,4 CHF; Jahresabo 782 CHF). Das Tagesticket ist dagegen vergleichsweise günstig (doppelter Preis des Stundentickets, also 8,8 CHF). Eines der wenigen Mankos im ÖV ist die nicht durchgehende Barrierefreiheit, da noch recht viele Straßenbahngarnituren hochflurig sind.
Sehr positiv fällt die konsequente Bevorrangung des ÖV auf – besonders im Vergleich zu Wien. Insbesondere die Straßenbahnen bleiben praktisch nur an Haltestellen stehen und sind flott und pünktlich unterwegs. Das sorgt für eine hohe Durchschnittsgeschwindigkeit trotz kurzer Haltestellenabstände und vor allem auch subjektiv für das Gefühl, schnell voranzukommen. Die gute Zugänglichkeit zu den Haltestellen trägt ebenso zur hohen Reisegeschwindigkeit bei. Kreuzungen mit Lichtsignalanlagen sind zum großen Teil mit Sensoren ausgestattet, die den ÖV wie auch andere Fahrzeuge erkennen und per dynamischer Steuerung optimierte Umläufe sicherstellen. Straßenbahnen bekommen meist unmittelbar freie Fahrt. Es werden also bei Näherung einer Straßenbahn auch Phasen übersprungen, um ihren Vorrang zu gewährleisten. Für den Individualverkehr (worunter natürlich auch das Fahrrad fällt) sorgt das natürlich für längere Wartezeiten, es kann schon einmal passieren, dass mehrere Grünphasen hintereinander ausfallen, was ich als häufiger Radfahrer auch durchaus als Geduldsprobe empfunden habe. Systemisch macht es natürlich trotzdem Sinn, da nur so die hohe Leistungsfähigkeit der Straßenbahn sichergestellt werden kann. Die Umlaufzeiten sind im Durchschnitt wesentlich kürzer als ich es aus anderen Städten, insbesondere aus Wien, gewohnt bin. Kurze Umlaufzeiten sind zwar nachteilig für den Fahrzeugdurchsatz, für FußgängerInnen und Radfahrende erhöht es aufgrund kürzerer Wartezeiten die Attraktivität jedoch deutlich. Dass Grün nur auf Relationen kommt, auf denen auch Bedarf besteht, sorgt für eine weitere Verkürzung. Die flächendeckende Ausstattung der Lichtsignalanlagen mit Sensoren und entsprechenden Steuerungen ist eine nicht zu vernachlässigende Investition. Für konsequente Priorisierung des ÖV und Sicherstellung eines wünschenswerten Verkehrsflusses unter Berücksichtigung aller VerkehrsteilnehmerInnen ist es aber wohl eine Investition, die sich lohnt.
Diese Priorisierung macht sich natürlich auch beim Modal Split bemerkbar. Der öffentliche Verkehr konnte in der Stadt von 30 % im Jahr 2000 auf 41 % im Jahr 2015 zulegen (neuere Zahlen liegen noch nicht vor). Mit dem MIV wurden 2015 25 % der Wege zurückgelegt, 2000 waren es noch 40 %. Der Fußanteil blieb weitgehend stabil bei 26 %, das Fahrrad konnte sich von 4 auf 8 % verdoppeln, wenn auch auf geringem Niveau.
Flott zu Fuß – Gehen als Grundverkehrsmittel
Zürich ist allein schon aufgrund des kompakten Stadtkerns und der polyzentralen Struktur eine klassische Fußgängerstadt. Viele Wege können ohne weiteres zu Fuß zurückgelegt werden. Eine in weiten Teilen dichte Bebauung, kleinteilige Nutzung und Durchmischung gewährleisten kurze Wege innerhalb der Stadt. Die Gestaltung des öffentlichen Raums nimmt darauf Rücksicht und bietet sehr angenehme Bedingungen zum Gehen. Generell wird FußgängerInnen viel Platz eingeräumt, wobei es je nach Stadtquartier natürlich gewisse Schwankungen gibt. Die Wegführung ist meist konsistent und direkt, es gibt eine hohe Dichte an Schutzwegen und Kreuzungen sind fußgängerfreundlich gestaltet. Sie sind vergleichsweise selten ampelgeregelt (und wenn, dann mit auffällig kurzen Umlaufzeiten), womit Wartezeiten auf ein Minimum reduziert werden. Ein gutes Beispiel für ÖV- und fußverkehrsfreundliche Verkehrsorganisation bei gleichzeitig sehr hoher Verkehrsleistung ist das Central, ein Platz zwischen Hauptbahnhof und Universität. Hier treffen sechs Straßen aufeinander, drei davon von Straßenbahnen befahren, weitere mit Bussen. Trotzdem wird hier auf Ampeln verzichtet (außer natürlich die speziellen Signale für Straßenbahnen und Busse). Es gilt also Vorrang für ÖV und Fußverkehr.
Öffentlicher Raum – funktional und frei von Allüren
Vor allem im Vergleich zu Wien wirkt der öffentliche Raum in Zürich sehr aufgeräumt und ordentlich. Hindernisläufe zwischen Masten, Tafeln, Schaltschränken und Verkaufsständen auf den Gehflächen sind also keine typische Zürcher Disziplin. Begrünung im öffentlichen Raum ist eher spärlich anzutreffen, es gibt vergleichsweise wenige Straßenzüge, die mit Bäumen versehen sind. Da sich im unmittelbaren Umland jedoch viele Wälder befinden und auch der See kühlend wirkt, gibt es klimatisch auch keinen so akuten Handlungsdruck wie z.B. in Wien, wo natürlich auch die Temperaturen im Sommer deutlich höher sind.
Bei der Straßenraumgestaltung fällt auf, dass es relativ wenige Parkplätze gibt. Beidseitige Parkspuren sind – wiederum ganz im Gegensatz zu Wien – die Ausnahme. Die Gesamtparkplatzzahl in der Innenstadt ist auf Stand 1990 eingefroren. Durch den Bau von Garagen konnte so die Zahl der Oberflächenparkplätze deutlich reduziert und viele gänzlich autofreie Flächen verwirklicht werden. Künftig soll auch die Gesamtzahl an Stellplätzen sinken.
Insgesamt dürfte die Aufteilung der Verkehrsflächen dem Modal Split deutlich näherkommen als in den meisten anderen Städten. Hier ein lesenswerter Artikel dazu, der anschaulich beschreibt, wie sehr andere Werte und Sozialisierung die Perspektive prägen, insbesondere in der Stadt- und Verkehrsplanung.
Radfahren – der wunde Punkt
Radfahren in Zürich ist eine eher mäßig angenehme Angelegenheit. Eigenständige, baulich getrennte Radwege gibt es kaum, zum Großteil ist man im Mischverkehr auf der Fahrbahn und auf Mehrzweckstreifen/Schutzstreifen unterwegs. In den zahlreichen verkehrsberuhigten Nebenstraßen ist das Radfahren im Mischverkehr sinnvoll und auch attraktiv, auf stärker befahrenen Straßen wäre die baulich getrennte Führung jedoch klar vorzuziehen. Die Linienführung ist oft inkonsistent und lässt Radfahrende besonders an Kreuzungen ratlos zurück. Man kann insgesamt kaum von „8to80“-tauglicher Infrastruktur sprechen.
Konfliktträchtige gemischte Fuß- und Radverkehrsflächen sind häufig, Randsteine bei Überfahrten oder auch Temposchwellen oft unangenehm zu befahren, da zu stark geneigt und nicht abgerundet. Viele Faktoren wie enge Straßen, der dichte ÖV und generell der Platzmangel machen die Radverkehrsplanung in Zürich offensichtlich schwierig. Auf Nutzerseite kommt vor allem die herausfordernde Topographie dazu, die das Radfahren nicht selbstverständlich macht. Sehr positiv aufgefallen ist mir, dass trotz mangelhafter Infrastruktur vergleichsweise viele Kinder eigenständig mit dem Rad unterwegs sind. Außerdem ist der Anteil von E-Bikes (auch als S-Pedelec mit Nummerntafel und bis zu 45 km/h Motorunterstützung) hoch, womit der Faktor Topographie als Hindernis der Radnutzung wegfällt.
Die Stellplatzsituation habe ich als recht positiv wahrgenommen, es sind viele Anlagen vorhanden und die zwei gängigsten Typen sind auch angenehm zu nutzen. Ästhetisch sind die Anlagen mit Kabelschlingen freilich fragwürdig.
Ein gutes Bikesharing-Angebot bietet PubliBike. Es ist ein Tochterunternehmen des öffentlichen Busbetreibers PostAuto und in der ganzen Schweiz vertreten. Es gibt sowohl klassische Räder als auch E-Bikes. An den Stationen gibt es für die Räder keine fixen Stellplätze, Flexibilität ist dementsprechend gegeben. Die E-Bikes müssen nicht als Ganzes an die Steckdose, es werden lediglich die leeren Akkus durch volle getauscht. Da ich meist mit meinem eigenen Rad unterwegs war, habe ich kein Abo abgeschlossen, aber PubliBike macht den Eindruck eines attraktiven Systems. Im Vergleich zum Wiener Citybike ist es allerdings nicht quasi-gratis. Ohne Abo sind die Preise relativ hoch; 3 CHF für die ersten 30 Minuten mit dem regulären Rad, 4,50 für das E-Bike. Das günstigste Abo startet bei 9 CHF pro Monat bzw. 60 CHF pro Jahr. Dabei sind beim regulären Rad jeweils die ersten 30 Minuten inkludiert, längere Ausleihen und E-Bikes kosten pro Zeiteinheit extra. Das teuerste Abo beinhaltet auch die ersten 30 Minuten pro Ausleihe für E-Bikes, bei ansonsten günstigeren Zeittarifen. Dafür sind 29 CHF pro Monat bzw. 290 CHF pro Jahr fällig. Wesentlich günstigere Spezialtarife gibt es beispielsweise für Studierende.
Ein weiteres interessantes Bikesharing-Service ist smide, ein Freefloating-Modell mit S-Pedelecs. Ebenfalls toll ist der Gratis-Veloverleih Züri rollt, eine Initiative des Arbeitsintegrationsprogramms der Stadt Zürich. Daneben gibt es noch einige Anbieter von Scooter-Sharing.
Altlasten der autogerechten Stadt – die Leichen im Keller (bzw. Dachboden)
Natürlich ist auch Zürich nicht frei von Sünden aus der Vergangenheit. Da gibt es beispielsweise ein Prachtexemplar von aufgeständerter Stadtautobahn über der Sihl oder die ebenfalls als Stadtautobahn dimensionierte Hardbrücke, die das hippe Industriequartier durchschneidet und großflächig Garagencharme versprüht. Aber glücklicherweise dachte die Bevölkerung und daraufhin auch die Verantwortlichen aus der Politik recht bald um und der Spuk der autogerechten Stadt neigte sich bald wieder dem Ende zu.
Kürzlich wurde wiederum ein Großprojekt ventiliert, das durchaus dem Schema der autogerechten Stadt entsprochen hätte, der sogenannte Rosengartentunnel. Diesem wurde allerdings seitens der kantonalen Bevölkerung ein sehr deutlicher Strich durch die Rechnung gemacht.
Fazit – Mobilitätsmusterstadt Zürich?
Ein knappes halbes Jahr über hatte ich die Möglichkeit, Zürich und die Schweiz insgesamt näher kennenzulernen und mir ein Bild der Schweizer Planungskultur zu machen. Klarerweise auch mit der Absicht, Inspirationen für daheim mitzubringen. Bei der Übertragbarkeit von stadt- und verkehrsplanerischen Maßnahmen ist natürlich Vorsicht geboten. Eine Vielzahl von Faktoren spielt hier mit und trägt zum Gelingen oder Nichtgelingen von derartigen Maßnahmen bei, sodass es nicht das eine Bündel an Patentlösungen für alle Städte geben kann. Trotzdem kann ich mit den gesammelten Erfahrungen bestätigen, dass Zürich in großen Teilen vorbildliche Verkehrspolitik betreibt.
Der öffentliche Verkehr in Stadt und Land hat eine beispiellos hohe Qualität und kann zweifellos als Vorbild im Ausland dienen. Auch zu Fuß zu gehen ist in den meisten Zürcher Stadtquartieren entspannt, rasch und komfortabel möglich. Maßvolle Dichte, Durchmischung und ein vielfältiger öffentlicher Raum tragen wesentlich zur Attraktivität des Fußverkehrs bei. Beim Radfahren ändert sich der Eindruck. Die Radinfrastruktur ist nur in Bruchstücken für alle Altersgruppen geeignet und kann allein deshalb kaum als Vorbild herhalten. Der Vergleich zu klassischen Fahrradstädten wie Amsterdam und Kopenhagen zeigt das große Potenzial, das in einer konsequenten Förderung des Radverkehrs steckt. Angesichts des an den Kapazitätsgrenzen anlangenden S-Bahn-Netzes wäre eine Forcierung des Radverkehrs – auch über die Stadtgrenzen hinweg – eine vergleichsweise rasch umsetzbare, gesunde und kostengünstige Möglichkeit zur weiteren Verbesserung des Mobilitätssystems im Ballungsraum Zürich.