In Frankreich wurde am 01. Juli 2018 die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf zweispurigen Außerortsstraßen (routes secondaires) ohne bauliche Trennung von 90 km/h auf 80 km/h heruntergesetzt. Ziel der Maßnahme war es, die Verkehrssicherheit zu verbessern und die Zahl der Verkehrtstoten zu senken. Aufgrund von starken Protesten aus Teilen der Bevölkerung wurde das Tempolimit im Jahr 2019 durch das französische Parlament aufgeweicht. Seit Ende Dezember 2019 können die Départements – in einzelnen Fällen auch die Gemeinden – die zulässige Höchstgeschwindigkeit regional wieder auf 90 km/h heraufsetzen. Von dieser Regelung haben einige Gebietskörperschaften entsprechend Gebrauch gemacht.
Die Einführung der neuen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen wurde im Auftrag der Délégation à la sécurité routière (Direktion für Straßenverkehrssicherheit im französischen Innenministerium) evaluiert. Mit der Evaluation (Download) wurde Cerema (Centre d’études et d’expertise sur les risques, l’environnement, la mobilité et l’aménagement; dt. Zentrum für Studien und Gutachten über Risiken, Umwelt, Mobilität und Stadtplanung) beauftragt. Aufgrund der Covid19-Pandemie sind die erhobenen Daten nur bis Dezember 2019 belastbar, sodass sich die Evaluation nur auf den Zeitraum Juli 2018 – Dezember 2019 bezieht.
Evaluationsgegenstände waren die gefahrenen Geschwindigkeiten, das Unfallgeschehen, die Akzeptanz und die Auswirkungen für die Gesellschaft. Die Erhebung der gefahrenen Geschwindigkeiten erfolgte an über 40 Messstellen in Frankreich. Die Geschwindigkeitsdaten wurden jeweils für leichte und schwere Fahrzeuge ermittelt. Für die Bewertung der Verkehrssicherheit wurde das Unfallgeschehen auf dem betroffenen Straßennetz (außerorts, ohne Autobahnen) mit dem restlichen Straßennetz verglichen. Als Referenzperiode für den Betrachtungszeitraum wurden die Jahre 2013-2017 herangezogen. Zur Vermeidung von jahreszeitlichen Einflüssen wurden jeweils die Vorjahreszeiträume miteinander verglichen. Weitere Analysen betrafen die Reisezeit auf ausgewählten Straßenabschnitten und eine sozioökonomische Bewertung der sich verändernden externen Effekte.
Veränderung der Geschwindigkeiten
Mit Einführung des herabgesetzten Tempolimits am 01.07.2018 konnte an den Messstellen im betroffenen Straßennetz (sog. VMA80) eine Abnahme der durchschnittlich gefahrenen Geschwindigkeit festgestellt werden. Die Durchschnittsgeschwindigkeit im Juli 2018 lag 4,3 km/h unter dem Vormonat Juni 2018.
Der Rückgang der Geschwindigkeiten blieb den gesamten Betrachtungszeitraum über stabil. Die Durchschnittsgeschwindigkeit betrug vor der Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (Juni 2018) 86,4 km/h und nach der Geschwindigkeitsanpassung 83,1 km/h (Juli 2018 bis Dezember 2019). Im zweiten Halbjahr 2018 lag die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 82,7 km/h, im ersten Halbjahr 2019 bei 83,4 km/h und in der zweiten Jahreshälfte 2019 bei 83,1 km/h.
Eine Reduktion konnte für alle Geschwindigkeitsklassen festgestellt werden, auch für die schnellsten. Der Unterschied zwischen den langsamsten und den schnellsten Fahrzeugen blieb jedoch stabil (Differenz vor Einführung 21 km/h, danach 20 km/h). Der Geschwindigkeitsrückgang betrifft folglich die gesamte Verteilung der Fahrzeuggeschwindigkeiten.
Der Rückgang der Durchschnittsgeschwindigkeit von leichten Fahrzeugen wie bspw. Pkw über den 18-monatigen Zeitraum nach der Geschwindigkeitsherabsetzung beträgt 3,5 km/h im Vergleich zum Juni 2018. Die Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 87,0 km/h vor der Umsetzung (Juni 2018) und 83,5 km/h nach der Umsetzung (Juli 2018 bis Dezember 2019). Im zweiten Halbjahr 2018 lag die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 83,1 km/h, im ersten Halbjahr 2019 bei 83,9 km/h und im zweiten Halbjahr 2019 bei 83,5 km/h.
Geschwindigkeitsübertretungen (V > 80 km/h) konnten im Dezember 2019 bei 58 % der Fahrzeuge festgestellt werden. 35 % der Fahrer:innen fuhren zwischen 80 und 90 km/h und 23 % über 90 km/h. Obwohl der Anteil der Fahrer:innen von leichten Fahrzeugen, die mit mehr als 100 km/h fuhren, nach der Geschwindigkeitsreduktion zurückging, lag er im Dezember 2019 immer noch bei 9 % (im Vergleich zu 13 % vor der Senkung der Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h im Juni 2018).
Obwohl die herabgesetzte Höchstgeschwindigkeit schwere Fahrzeuge wie Lkw nicht betrifft (Ausnahme: Reisebusse), da deren Geschwindigkeit bereits vor Juli 2018 auf 80 km/h begrenzt war, konnte auch in dieser Fahrzeugklasse ein Rückgang der Durchschnittsgeschwindigkeit um 1,8 km/h im 18-Monats-Zeitraum im Vergleich zum Juni 2018 beobachtet werden. Ebenfalls wird die Geschwindigkeitsbegrenzung häufiger eingehalten: Die Quote an Verstößen lag im Dezember 2019 um 11 Punkte niedriger als im Juni 2018 und sank von 49 % auf 38 %.
Verkehrssicherheit
Nach Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h auf 80 km/h konnten im betroffenen Straßennetz in jedem Halbjahr deutliche und sehr deutliche Rückgänge in der Zahl der Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der vorangegangenen Halbjahre festgestellt werden. Im übrigen Netz wurden in der zweiten Jahreshälfte 2018 und 2019 keine Zuwächse verzeichnet, das erste Halbjahr 2019 zeigt jedoch einen sehr signifikanten Anstieg der Zahl der Todesfälle.
Auf Landstraßen ist der Rückgang der Zahl der Todesfälle sehr signifikant:
- für das erste Halbjahr 2019 beträgt der Rückgang der Zahl der Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der ersten Quartale des Bezugszeitraums 76 Todesfälle, d. h. 8 %, und ist sehr signifikant
- für die zweite Hälfte der Jahre 2018 und 2019 beträgt der Rückgang 125 bzw. 130 Todesfälle, d. h. 10 % und ist sehr signifikant
Im Rest des Netzes ist die Entwicklung hingegen ungünstiger:
- Im ersten Halbjahr 2019 ist ein Anstieg von 52 Todesfällen zu verzeichnen, d. h. 9 % im Vergleich zum Bezugszeitraum. Dieser Anstieg ist sehr signifikant.
- Die zweiten Halbjahre 29018 und 2019 sind eine Fortsetzung des Bezugszeitraums: die Unterschiede sind nicht signifikant.
Im Straßennetz, in welchem die Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h auf 80 km/h herabgesetzt wurde, lässt sich über den Betrachtungszeitraum von 18 Monaten ein kontinuierlicher Rückgang der Zahl der bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommenen Menschen beobachten, während dieser Effekt im restlichen Straßennetz nicht zu beobachten ist:
18 Monate nach Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf franzöischen Landstraßen zeigte sich ein Rückgang der sog. Odds Ratio von etwa 12 % bei den Straßenverkehrstoten auf dem betrachteten Netz im Vergleich zum übrigen Straßennetz Frankreichs (mit einer maximalen Fehlerschätzung von 3,6 %). Dies entspricht in etwa 331 verhinderten Todesfällen über 18 Monate.
Im betrachteten Netz wurde 2019 ein Rückgang der Todesrate um 10 % festgestellt (13,7 Tote / 100 Unfälle im Jahr 2019 im Vergleich zu 15,2 Toten / 100 Unfälle im Zeitraum 2013-2017). Dieses Phänomen ist im übrigen Netz nicht zu beobachten, wo stattdessen 2019 ein Anstieg der Todesrate um 1 % zu beobachten war.
Die Zahl der Verkehrsunfälle mit verletzten Personen auf Landstraßen stieg vor Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Zeitraum 2013 – 2017 an und blieb in den Jahren 2018 und 2019 stabil. Im Rest des Straßennetzes war diese Entwicklung nicht zu beobachten: 2013 – 2017 blieb die Zahl der Unfälle mit Verletzten konstant und sank 2018 und 2019 signifikant.
Auswirkungen auf die Reisezeit
Zur Bestimmung der Reisezeitverluste durch die Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf französischen Landstraßen von 90 auf 80 km/h wurde zum einen via Google Maps-Daten ein Vorher-Nachher-Vergleich von Fahrzeiten auf 297 Straßenabschnitten mit einer Länge zwischen 25 und 30 km angestellt (insg. 7.551 km betrachtete Netzlänge), zum anderen die Reisezeiten von 1.458.000 Fahrzeugen, die auf Abschnitten des betrachteten Netzes verkehren, über das TomTom Move Traffic-Statistiktool ausgewertet. Bei der zweiten Analyse wurden 154 Routen mit einer Netzlänge von 3.983 km betrachtet. Auf diesem Netz wurden im Betrachtungszeitraum von je drei Monaten im Jahr 2017 (vorher) und 2019 (nachher) 5,5 Milliarden Fahrzeugkilometer zurückgelegt.
Im Durchschnitt aller 298 Routen zeigen die mit Google Maps ermittelten Ergebnisse einen Anstieg der Reisezeit ab dem 1. Juli 2018 um etwa eine Sekunde pro Kilometer während der Berufsverkehrszeiten (gemessen an Werktagen ab 8:00 Uhr und ab 17 Uhr).
Zwischen Juni 2018 und Juni 2019 weisen 81 % der Strecken einen Anstieg der durchschnittlichen täglichen Reisezeit auf, davon 24 % um weniger als 1 Sekunde und 28 % zwischen 1 und 2 Sekunden pro Kilometer. Auf 19 % der Strecken sank die Reisezeit, davon 11 % unter 1 Sekunde pro Kilometer.
Der durchschnittliche Anstieg der Fahrzeiten, der über das TomTom Move Traffic-Statistiktool aus den historischen GPS-Aufzeichnungen ermittelt und nach dem Verkehrsaufkommen auf den untersuchten Strecken gewichtet wurde, beträgt zwischen 2017 und 2019 0,98 s/km. Dieses Ergebnis bestätigt die mittels Google Maps ermittelten Werte.
Bei 88 % der 154 betrachteten Routen stieg die benötigte Reisezeit, zum Großteil weniger als 3 Sekunden / Kilometer. Auf 12 % der betrachteten Routen sank die Reisezeit, zum Großteil weniger als 1 Sekunde / Kilometer.
Bei “regelmäßigen” Fahrten von etwa 30 km beträgt die durchschnittliche Verlängerung der Fahrzeit etwa 30 Sekunden unter der Woche und 40 Sekunden am Wochenende. Bei Fahrten von etwa 80 km, die z. B. der Durchquerung eines Departements entsprechen, beträgt die durchschnittliche Verlängerung der Fahrtzeit unter der Woche etwa eine Minute und am Wochenende weniger als zwei Minuten.
Die im Rahmen von Akzeptanzbefragungen erwarteten Reisezeitverlängerungen lagen weit über den realen Reisezeitverlängerungen. Vor Umsetzung der Geschwindigkeitsanpassung rechneten 72 % der Befragten mit einer verlängerten Reisezeit, dabei 31 % mit einer Verlängerung zwischen fünf und zehn Minuten und 13 % mit einer Verlängerung über zehn Minuten. Nach Einführung der Maßnahme sank die geschätzte Reisezeitverlängerung zwar, lag aber weiterhin weit über den real gemessenen Werten (geschätzte zwei Minuten statt realer 50 Sekunden).
Wahrnehmung und Akzeptanz
Die Akzeptanz der Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf französischen Landstraßen von 90 auf 80 km/h war vor der Umsetzung mit knapp 30 % gering. Mit der Einführung haben sich die Zustimmungswerte leicht verbessert. Der Anteil der Befürworter stieg von 30 % im April 2018 auf 43 % im Oktober 2019 und 48 % im Juni 2020.
Am stärksten war die positive Veränderung bei den Personen, die mit der Maßnahme “überhaupt nicht einverstanden” sind. Ihr Anteil sank von 40 % im April 2018 auf 23 % im Oktober 2019 und 20 % im Juni 2020. Diese Veränderung ist besonders ausgeprägt bei Menschen, die in ländlichen Gebieten und in Städten mit weniger als 20.000 Einwohnern leben. Der Rückgang der Unfallzahlen und insbesondere der Todesfälle hat sich positiv auf die Akzeptanz der Maßnahme ausgewirkt.
Die angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung wird von 75 % der Befragten “immer” oder “meistens” eingehalten. 80 % der Menschen, welche der Maßnahme ablehnend gegenüber stehen, halten sich dennoch an die Geschwindigkeitsbegrenzung.
Kosten-Nutzen-Analyse / sozioökonomische Bewertung
Stellt man den Nutzen und die Kosten der Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf französischen Landstraßen gegenüber, ergibt sich ein Wohlfahrtsgewinn von rund 700 Millionen Euro / Jahr.
Die sozioökonomische Bilanz zeigt, dass die Maßnahme effizient ist, geringe Investitionen erfordert und in Bezug auf den Nutzen für die Gesellschaft im Verhältnis zu den Kosten zu einem positiven Ergebnis kommt. Der Nutzen liegt erwartungsgemäß vor allem in einer höheren Verkehrssicherheit (1,2 Milliarden Euro). Die wichtigsten sozialen Kosten hängen mit dem Verlust von Reisezeit zusammen (zwischen 720 und 920 Mio. €). Sie werden weitgehend durch den Rückgang der Unfallzahlen ausgeglichen, zu denen die Vorteile eines geringeren Kraftstoffverbrauchs und geringerer CO2-Emissionen hinzukommen.
Verweis
CEREMA (2020): Lowering the speed limit to 80 km/h. Final assessment report. Paris, Frankreich: Cerema
Hallo, Danke für den Beitrag. Sehr interessante Ergebnisse. Gibt es Erkenntnisse über Verlagerungseffekte, insbesondere bei der Modus- und Routenwahl?
Hallo,
Verlagerungen in andere Teile des Straßennetzes scheint es nicht gegeben zu haben bzw. lassen die Daten einen solchen Schluss nicht zu:
Vielen Dank für den Nachtrag.
Ich bin mir nicht sicher, ob die erwähnte Schätzung vernünftig ist, dass es keine (nennenswerten) Änderungen in Modus- und Routenwahl gibt. Es gibt einige Studien die Elastizitäten der Nachfrage bei Fahrtzeitänderungen ausweisen. Aber vielleicht sind diese Fahrtzeitänderungen auch zu gering. Da scheint der Sicherheitsaspekt gewichtiger zu sein.