Ich glaube Thomas Hobbes hatte Recht: er ging von einem Naturzustand aus, in dem die Menschen ohne Gesetz und ohne Staat leben und in welchem daher – auf Grund des Naturrechts (ius naturale) – jeder alles beanspruchen kann. Im Naturzustand herrscht Anarchie; die Menschen führen einen “Krieg aller gegen alle” (bellum omnium contra omnes), in dem “der Mensch […] dem Menschen ein Wolf [ist]” (homo homini lupus).
Fragt sich nur: Was hat das mit Verkehr zu tun?
Ron Gabriel, ein Design-Absolvent der School of Visual Arts, hat den bellum omnium contra omnes auf einer normalen New Yorker Kreuzung gefilmt und veröffentlicht. Das Video verdeutlicht das enorme Konfliktpotential zwischen Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern.
Die vielen Konfliktsituationen sind ohne Frage gefährlich. Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger bewegen sich in einem Spannungsfeld dessen Gleichgewicht sehr fragil ist. Bereits kleine Unaufmerksamkeiten könnten zu vielen Verletzten und auch Toten führen. Wir können froh sein, dass auf diesem Video keine (schweren) Unfälle zu sehen ist.
Das System des “shared space”, in dem alle Verkehrsteilnehmer mit gleichen Rechten und Pflichten (!) ausgestattet sind, wird nicht nur in New York oftmals nicht ausreichend beachtet. New York steht hier stellvertretend für viele andere Städte mit gefährlichen Kreuzungen.
Es braucht Zeit, bis sich Autofahrer daran gewöhnen, dass ihnen die Straßen nicht mehr alleine gehören. Viele Städte legen vermehrt Fahrradwege und -streifen, Busspuren und verkehrsberuhigte Zonen an. Die Änderungen des Umfelds müssen aber zwingend mit einer Veränderung des Verhaltens einhergehen. Ansonsten kommt es immer wieder zu schweren Unfällen.
Jede Stadt befindet sich stets in mehreren parallel verlaufenden Transformationsprozessen. Durch verschiedene Strömungen definiert sich das Zusammenleben immer wieder neu. Diese Strömungen werden jedoch durch das Verhalten der Menschen gebremst und kommen manchmal ganz zum Erliegen. Wir wandeln verhaltenstechnisch am liebsten auf ausgetretenen Pfaden, die zum Teil von Borniertheit, alten Denkmustern, Ignoranz und Besitzstandswahrung geprägt sind.
Man darf aber eines niemals vergessen: Der öffentliche Raum gehört uns allen. Jeder hat das Recht, sich so zu entfalten wie er mag solange er niemand anderem schadet. Durch die Autozentriertheit der letzten Jahrzehnte wurden städtebauliche Fehler gemacht, die gemeinsamen Lebensraum in Abstellflächen für PKW verwandelt haben. In den letzten Jahren steuern viele Städte dieser Entwicklung entgegen. Parkplätze werden rückgebaut und der Öffentlichkeit wieder als Lebensraum zur Verfügung gestellt. Auch dies löst zumindest vor der Umsetzung Widerstände aus.
In der Hobbes’schen Theorie, nach der jeder alles beanspruchen kann, ist dieses Verhalten sehr gut beschrieben. Keiner mag etwas von seinen erlangten Privilegien abgeben, obwohl er damit der Gesellschaft nutzen könnte.
Würden sich alle Verkehrsteilnehmer auf jener New Yorker Kreuzung an die Regeln halten, würden keine gefährlichen Situationen entstehen. Aus der Komplexität und des großen Interessengemenges entsteht jedoch Chaos. Chaos, das niemand will aber dennoch notwendig ist um Veränderungen herbeizuführen. Denn was ist die Alternative? Eine strikte Trennung der Verkehrsströme würde die Stadt entmenschlichen und das soziale Gefüge auseinander reißen.
Da wir dies nicht wollen, müssen wir mit der gefilmten Situation auskommen. Denn der Transformationsprozess und die damit einhergehende Verhaltensänderung à la gegenseitige Rücksichtnahme wird lange dauern. Daher gilt: Je früher wir damit anfangen, desto besser!