Alles Wissenswerte zum Thema Radhelmpflicht und deren Wirkung auf den Radverkehr finden Sie in unserem Dossier.
Die persönliche Entscheidung, einen Fahrradhelm zu tragen oder eben nicht zu tragen, ist fundamental unterschiedlich zur Entscheidung, die Einführung einer allgemeinen Radhelmpflicht zu fordern oder abzulehnen. Es ist beispielsweise durchaus möglich, und sogar rational erklärbar, wenn ein Helmträger die Einführung einer Radhelmpflicht ablehnt.
Die persönliche Entscheidung, einen Fahrradhelm zu tragen, ist primär von einer möglichen Risikokompensation getrieben. Man möchte sein eigenes Leben und seine körperliche Unversehrtheit durch den Fahrradhelm schützen und nimmt diesbezüglich Kosten in Form eines Fahrradhelmes, einem Komfortverlust während des Fahrens und die Aufbewahrungsproblematik in Kauf. Dies alles sind persönliche Kosten, die einem persönlichen Nutzen (höheres Sicherheitsgefühl) gegenüber abgewogen werden. Aus dieser Abwägung heraus wird die Entscheidung pro / contra Helm getroffen.
Der Staat kann aber nur äußerst begrenzt auf dieser Ebene argumentieren. Dennoch wird häufig folgende Argumentationskette angewendet:
Durch das Radfahren ohne Helm setzt sich der Radfahrer einem großen Risiko aus. Besonders gefährlich sind Kopfverletzungen durch Stürze und Kollisionen. Dies entspricht nicht dem normalen Risiko, dem wir über den Tag hinweg ausgesetzt sind. Es ist dumm und nicht vertretbar, dieses Zusatzrisiko in Kauf zu nehmen. Es gibt keinen substanziellen Grund, das Tragen eines Helmes abzulehnen, der heutzutage leicht und komfortabel, günstig, usw. ist. Zwar müssen die Radfahrer die Schmerzen und alle negativen Folgen eines Unfalls selber tragen, aber dennoch muss die Öffentlichkeit die Unfall- und Behandlungskosten bezahlen. Aus diesem Grund ist es unverantwortlich, wenn Radfahrer keinen Helm tragen und die Zusatzkosten der Bevölkerung aufbürden. Durch eine allgemeine gesetzliche Radhelmpflicht können diese Kosten vermieden werden.
Diese Argumentation baut hauptsächlich auf zwei Voraussetzungen auf:
- Das Risiko ohne Helm Fahrrad zu fahren, ist größer als das Risiko, dem wir über den Tag hinweg ausgesetzt sind. Radfahrer, die das Tragen eines Fahrradhelmes ablehnen, verursachen höhere medizinische Kosten als der Durchschnitt der Bevölkerung.
- Die Unbequemlichkeit einen Helm zu tragen ist viel kleiner als die durchschnittlichen Kosten, keinen Helm zu tragen.
Der kanadische Wissenschaftler Dr. Richard Johns hat sich eingehender mit der Beantwortung dieser Fragen und einer Kosten-Nutzen-Analyse der Radhelmpflicht in der kanadischen Provinz British Columbia beschäftigt. 1
Faktencheck Argument 1: Die medizinischen Kosten eines Kilometers Fahrrad fahren
In British Columbia verunfallen pro Jahr etwa 1.000 Radfahrer und müssen sich in ein Krankenhaus begeben. Bei einer Fahrleistung von 372 Millionen Kilometern im Jahr entspricht dies 264 Verletzungen / 100 Millionen Kilometern. Da nur etwa 35 Prozent der Radverkehrsunfälle von der Polizei registriert werden (Wert aus Toronto und Vancouver), liegt die Verletzungsrate bei 754 verletzten Radfahrern / 100 Millionen Kilometer Fahrleistung. 2 Die durchschnittlichen Behandlungskosten leichter Verletzungen in einer Notaufnahme betragen 150 kanadische Dollar. Somit entstehen jährliche Behandlungskosten in Höhe von 102.921 CAD, etwa 0,1 Cent je mit dem Rad zurückgelegten Kilometer.
Etwa neun Prozent der verunfallten Radfahrer haben schwerere Verletzungen erlitten und müssen in einem Krankenhaus stationär behandelt werden. Dies entspricht einer Quote von 68 stationär behandelten Patienten je 100 Millionen Kilometer Fahrleistung.
Nach Daten von AIRAKSINEN (2010) 3 fällt die Verletzungsschwere bei Unfällen mit Radfahrerbeteiligung (300 Personen, davon 216 Radfahrer) näherungsweise folgendermaßen aus:
AIS-Verletzungsschwere | AIS 1 (gering) | AIS 2 (ernsthaft) | AIS 3 (schwer) | AIS 4 (sehr schwer) | AIS 5 (kritisch) | AIS 6 (maximal = nicht behandelbar = tot) |
Anteil | 56% | 36% | 6% | 0,33% | 0,33% | 0,66% |
Die durchschnittlichen Behandlungskosten je Verletzungsschweregrad betragen nach ZHANG (2004), Tabelle 4.14, S. 261-2 4:
AIS-Verletzungsschwere | AIS 1 (gering) | AIS 2 (ernsthaft) | AIS 3 (schwer) | AIS 4 (sehr schwer) | AIS 5 (kritisch) | AIS 6 (maximal = nicht behandelbar = tot) |
Behandlungskosten (CAD) | 726 $ | 4843 $ | 19.976 $ | 87.772 $ | 266.223 $ | 63.680 $ |
Jedes Jahr entstehen somit Behandlungskosten in Höhe von 1,04 – 2,2 Millionen kanadische Dollar. Davon entfallen 278.069 – 298.309 kanadische Dollar auf die Behandlung von Kopfverletzungen (Anteil an den Verletzungen: 29,4 – 33,7%). Die exakten Kosten sind nicht kalkulierbar, da die Verteilung der Verletzungsintensität auf finnischen Werten basiert. Im Weiteren wird daher mit den höheren medizinischen Kosten gerechnet.
Für jeden mit dem Fahrrad zurückgelegten Kilometer entstehen somit Gesundheitskosten in Höhe von 2 Cent. Davon entfallen zwischen 0,32 – 0,74 Cent auf Kopfverletzungen. Unter Einbeziehung von Produktivitätsverlusten, Verlust von Lebenszeit, Schmerz und rechtlichen Kosten entstehen somit durchschnittlich Unfallfolgekosten von 7 – 14 Cent / Kilometer.
Zhang (2004) schätzt die Unfallfolgekosten für Autofahrer auf 13,2 Cent / km und für Motorradfahrer auf 1,60 $ / Kilometer. Davon entfallen bei Autofahrern 1,8 Cent / Kilometer auf die medizinischen Behandlungskosten und bei Motorradfahrer 0,22 Cent / Kilometer.
Einsparpotenziale durch das Tragen eines Helmes
Fahrradhelme können die Zahl der Kopfverletzungen minimieren und die Verletzungsschwere verringern. Für die Bemessung des Nutzens ist es von Bedeutung, ob nur leichte Verletzungen mit geringen Unfallfolgekosten vermieden werden oder ob auch schwere und schwerste Verletzungen durch einen Helm gemindert bzw. vermieden werden. Im Idealfall vermeiden Helme etwa 65 Prozent der Kosten einer Kopfverletzung (AIRAKSINEN 2010). Diese betragen bei einer Helmtragequote von nur 13 Prozent etwa 0,3 – 0,7 Cent / km. Ein durchschnittlicher Radfahrer mit einer Fahrleistung von 3.000 km / Jahr vermeidet durch das Tragen eines Helmes folglich Kosten in Höhe von 6 – 15 $ pro Jahr. Bei maximaler Schutzwirkung des Helmes und keinerlei Risikokompensation (aggressiveres Fahren aufgrund des höheren Schutzgefühls durch den Helm) beträgt der Nutzen 43 – 107 Dollar / Jahr.
Bei einer Fahrleistung von 372 Millionen Kilometern entstehen in British Columbia Kosten von ungefähr acht Millionen Dollar für die medizinische Behandlung verunfallter Radfahrer, davon entfallen etwa 2,5 Millionen CAD auf die Behandlung von Kopfverletzungen. Bei voller Schutzwirkung kann eine Radhelmpflicht (100 % Helmtragequote) somit maximal Kosten in Höhe von 2,5 Millionen kanadischer Dollar einsparen (Verhinderung aller Kopfverletzungen).
Gesundheitseffekte des Radverkehrs
Radfahren verbessert wie jede andere sportliche Aktivität den Gesundheitszustand von Menschen. Laut ANDERSEN (2000) 5 erzeugt ein Radfahrer, der pro Woche drei Stunden Fahrrad fährt (156 Stunden / Jahr) durch seine verbesserte Gesundheit und die Verlängerung seiner Lebenserwartung einen medizinischen Nutzen von 3,20 $ / Stunde oder 23 Cent / Kilometer.
Diesem Nutzen stehen medizinische Kosten in Höhe von 2 Cent / km gegenüber.
Medizinische Kosten eines Kilometers Radfahren
Die durchschnittlichen medizinischen Kosten, die pro Kilometer Radfahren anfallen, betragen -0,21 CAD (23 Cent Nutzen und 2 Cent Unfallkosten). Dem stehen 1,8 Cent Kosten je Kilometer Autofahrt und 0,22 Cent Kosten je Kilometer Fahrt mit dem Motorrad gegenüber.
Um eine bessere Vergleichbarkeit zwischen den Verkehrsarten herstellen zu können, ist es jedoch aufgrund der Geschwindigkeitsunterschiede und Zeitgewinne sinnvoll, in Verlusten und Gewinnen an Lebenszeit (in Minuten) zu rechnen. Bei einer durchschnittlichen mit dem Fahrrad gefahrenen Geschwindigkeit von 14 km/h, 2,6 getöteten Radfahrern / 100 Millionen Kilometer Fahrleistung und einem durchschnittlichen Lebenszeitverlust von 35 Jahren / Toten fällt pro Stunde Fahrt mit dem Fahrrad ein Lebenszeitverlust von 6,7 Minuten an.
Verrechnet mit den Lebenszeitgewinnen (siehe obige Grafik – 20 Jahre: 24 Minuten; 40 Jahre: 63 Minuten; 50 Jahre: 120 Minuten) ergibt sich durch jeden Kilometer Fahrradfahrt immer ein Netto-Lebenszeitgewinn. Auf die Altersstruktur der Bevölkerung bezogen ergibt sich ein durchschnittlicher Lebenszeitgewinn von 90 Minuten / gefahrener Stunden Fahrrad.
Man kann also Folgendes festhalten: Für Fahrradfahrer sind die Erkrankungs- und Sterberaten geringer als im Durchschnitt, nicht höher. Der durchschnittliche Radfahrer verursacht weniger Gesundheitskosten als die Normalbevölkerung.
Sollte das Tragen eines Radhelmes verpflichtend sein?
Ausgehend von den Gesundheitskosten lässt sich festhalten, dass das Radfahren auch ohne Helm volkswirtschaftlich gesehen sinnvoll ist. Führt ein Staat eine Radhelmpflicht ein, so ist das größte Risiko, ein Rückgang des Radverkehrs und damit einhergehend ein Rückgang der positiven Lebenszeitgewinne.
Nehmen wir einmal an, dass der Radverkehr nach Einführung einer Radhelmpflicht um einen Prozentpunkt zurückgeht. Der Nutzen des Radverkehrs liegt bei etwa 90 Minuten Lebenszeitgewinn / Stunde, der Nutzen eines Radhelmes bei etwa einer Minute / Stunde. Dem stehen Gesundheitskosten von 6,7 Lebenszeitminuten / Stunde und zwei Cents / km gegenüber.
optimistisch | moderat | pessimistisch | |
---|---|---|---|
Sterblichkeit | 66 Prozent Rückgang | 33 Prozent Rückgang | keine Veränderung |
(je Stunde) | 4,4 Lebenszeitminuten | 0,9 Lebenszeitminuten | 0 Lebenszeitminuten |
Verletzungskosten | 20 Prozent Rückgang | 10 Prozent Rückgang | 5 Prozent Rückgang |
(je Stunde) | 0,4 Cent | 0,2 Cent | 0,1 Cent |
Um annähernd den Lebenszeitgewinn des Radfahrens zu erreichen, müsste die Helmtragequote maximal, d.h. von null auf 100 Prozent, wachsen. Rein gesundheitsökonomisch ist die Einführung einer Radhelmpflicht jedoch riskant, da dem geringen Nutzen ein sehr großes Risiko gegenübersteht: Der Rückgang des Radverkehrs.
Der australische Bundesstaat Victoria hat zu Beginn des Jahres 1991 eine allgemeine Radhelmpflicht eingeführt. An Zählstellen wurde die Zahl der Radfahrer erhoben. Es ist zu erkennen, dass zwar die Zahl der behelmten Radfahrer wuchs, die Radhelmpflicht an sich also Wirkung zeigte, gleichzeitig jedoch die Zahl der Radfahrer insgesamt rückläufig war.
Insbesondere Jugendliche zwischen 12 bis 17 Jahren lehnten das Tragen eines Helmes ab und verzichteten daher gänzlich auf die Fahrt mit dem Fahrrad. Oftmals stiegen sie sogar auf gefährlichere Freizeit-/Sportgeräte wie Skateboards und Roller um (siehe: Radhelmpflicht für Kinder und Jugendliche – Pro & Contra). Aber auch bei Erwachsenen war ein Rückgang des Radverkehrs zu beobachten. Aus Vereinfachungsgründen nehmen wir für unsere Rechnung an, dass der Radverkehr um 20 Prozent rückläufig war.
In British Columbia werden Schätzungen zufolge jedes Jahr 30 Millionen Stunden Rad gefahren. In der kanadischen Provinz ist die Helmtragequote nach Einführung der Radhelmpflicht um 25 Prozentpunkte von 45 auf 70 Prozent gestiegen. Für die Nutzenbestimmung der Radhelmpflicht nehmen wir einen Bevölkerungsdurchschnitt von 40 Jahren, einen Lebenszeitgewinn von 63 Minuten / Stunde Fahrrad fahren, eine durchschnittlichen mit dem Fahrrad gefahrenen Geschwindigkeit von 14 km/h, 2,6 getöteten Radfahrern / 100 Millionen Kilometer Fahrleistung, einen durchschnittlichen Lebenszeitverlust von 35 Jahren / Toten und eine Effektivitätsrate des Fahrradhelmes von 1,75 Prozent (optimistisch) bzw. 0,4 Prozent (moderat) an.
optimistisch | moderat | pessimistisch | ||
---|---|---|---|---|
Nutzen | Sterblichkeit | 1,1 Lebenszeitminuten | 0,23 Lebenszeitminuten | keine Veränderung |
(pro Stunde) | Verletzungskosten | 0,1 Cent | 0,05 Cent | 0,03 Cent |
Durch die höhere Schutzwirkung von ungefähr einem Prozent und einer gestiegenen Radhelmquote ergeben sich somit 7,5 Millionen zusätzlich gewonnene Lebenszeitminuten, also 14 Lebenszeitjahre / Jahr.
Durch den durch die Helmpflicht induzierten Rückgang des Radverkehrs werden pro Jahr etwa sechs Millionen Stunden weniger Fahrrad gefahren. Dies entspricht bei 90 Minuten gewonnener Lebenszeit / Stunde Fahrrad fahren einem Verlust von neun Millionen Lebenszeitstunden, also 1027 Lebenszeitjahre / Jahr.
Bei Verrechnung mit der durchschnittlich verlorenen Lebenszeit bei einem tödlich ausgehenden Radverkehrsunfall hat die Einführung einer Radhelmpflicht in British Columbia unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Lebensdauer rein rechnerisch sieben Leben gerettet und 500 gekostet. Nicht wirklich eine gute Quote!
Fazit
Die Hauptproblematik bei der Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Radhelmpflicht ist eindeutig der Rückgang des Radverkehrs. Man mag für sich selber einen Komfortverlust durch das Tragen eines Helmes verneinen, jedoch zeigen ganzheitliche Betrachtungen und Verkehrszählungen sehr wohl einen negativen Effekt einer Radhelmpflicht auf das Radverkehrsaufkommen.
Zu Beginn dieses Artikels wurde festgestellt, dass der Staat bei seinen Handlungen und der Bewertung derselben eine Abwägung treffen muss. Ist der Nutzen einer allgemeinen Radhelmpflicht gleichwertig oder sogar höher als der Nutzen einer freiwilligen Lösung? Ist der volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Schaden eines häufigeren Auftretens von Kopfverletzungen und deren Folgen höher, als die Gesundheitseffekte, die durch mehr Bewegung und das Vermeiden von anderen Krankheiten, die durch Bewegungsmangel entstehen (Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Osteoporose, höheres Herzinfarkt- / Schlaganfall-Risiko)? Trägt die Gesellschaft wirklich höhere Kosten, weil Radfahrer ohne Helm fahren?
Alle drei Fragen müssen eindeutig mit Nein beantwortet werden. Es besteht für den Staat also de facto keinerlei Grund, eine allgemeine Radhelmpflicht einzuführen.
- Johns R, 2012. A cost-benefit analysis of BCs bicycle helmet law. Velo City Global, Vancouver 2012 ↩
- Teschke K, Harris MA, Reynolds CCO, Winters M, Babul S, Chipman M, Cusimano MD, Brubacher J, Friedman SM, Hunte G, Monro M, Shen H, Vernich L, Cripton PA. Route infrastructure and the risk of injuries to bicyclists: A casecrossover study. American Journal of Public Health 2012; ↩
- Airaksinen, N., Lüthje, P., Nurmi-Lüthje, I., (2010) Cyclist Injuries Treated in Emergency Department (ED): Consequences and Costs in South-eastern Finland in an Area of 100 000 Inhabitants. ↩
- Zhang, Anming (2004) “Towards Estimating the Social and Environmental Costs of Transportation in Canada” (A Report for Transport Canada, 2004) Centre for Transportation Studies, Sauder School of Business, UBC. ↩
- Andersen LB, Schnohr P, Schroll M, Hein HO. (2000) “All-cause mortality associated with physical activity during leisure time, work, sports, and cycling to work”, Arch. Intern. Med. Jun 12; 160(11): 1621-8. ↩
“Die Hauptproblematik bei der Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Radhelmpflicht ist eindeutig der Rückgang des Radverkehrs.”
Die gesamte Argumentation dieses Artikels beruht auf der Idee, der Radverkehr nehme ab, sobald eine allgemeine Helmpflicht eingeführt würde. Als Beweis dienen Verkehrszählungen aus Kanada. Ganz davon abgesehen, dass die Statistik wenig aussagekräftig ist, weil sie überhaupt nicht belegt, dass die Menschen nur wegen des neuen Gesetzes nicht mehr Rad fahren (es könnten andere Gründe vorliegen), dass es nur eine einzige Statistik aus einem Bundesstaat ist, gilt es zu bedenken, dass nur die kurzfristigen Folgen aufgezeigt werden. Wie sieht es aber 2013 aus?
Wie viele Menschen fahren dort heute mit Helm? Wie viele in 5, 10, 20 Jahren?
Und so schnell ist das stärkste Kontraargument entkräftet. Man kann eben nicht allzuviel aus einer ZÄHLUNG ableiten, jedenfalls nicht wissenschaftlich-mathematisch.
Hallo,
es ist sicherlich richtig, dass eine Aussage auf Basis eines einzelnen Bundesstaates, einer Verkehrszählung zweier aufeinander folgender Jahre und somit einer sehr kurzfristigen Betrachtung sehr leicht angreifbar ist. Ich möchte diesen Kritikpunkt daher gerne mit weiteren Daten untermauern. Allerdings muss ich auch hier feststellen, dass eine Aussage nicht wirklich einfach ist, da ich mich auf australische Daten berufen muss. Australien hat allerdings einen an sich sehr geringen Radverkehrsanteil am Modal Split. Da aber kein europäisches Land oder ein anderes Land mit einem relativ hohen Radverkehrsanteil eine allgemeine Radhelmpflicht eingeführt hat, muss man gezwungenermaßen auf Länder wie Kanada, Neuseeland und Australien zurückgreifen. Die Ursache “Radhelmpflicht” für die Rückgänge kann man natürlich auch mit den folgenden Daten nicht hundertprozentig belegen, aber der Knick nach Einführung einer allgemeinen Radhelmpflicht lässt sich dennoch erkennen. Da in diesen Ländern aber keine langfristigen Längsschnittstudien durchgeführt wurden, bleibt immer eine Unsicherheit über die Gründe, nicht mehr mit dem Rad zu fahren. In anderen Erhebungen wurde jedoch die kurzfristige Wirkung einer Radhelmpflicht betrachtet. Und hier wurde eindeutig die Einführung der Helmpflicht als Grund, weniger Fahrrad zu fahren, genannt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die kurzfristige Entwicklung mittelfristig festigt, ist daher ziemlich hoch.
Im Oktober 2012 wurde der australische Zensus 2011 veröffentlicht, in dem auch der Radverkehrsanteil am Berufsverkehr ausgewiesen wurden.
Folgender Chart zeigt die Entwicklung des Radverkehrs zwischen 1976 und 2011. Die Radhelmpflicht wurde in verschiedenen Bundesstaaten 1991/1992 eingeführt (markiert mit den bunten Strichen): http://j.mp/1bPao3t
Zwischen 1986 und 2011 ist der Radverkehranteil von 1,68% auf 1,29% gesunken (ich hatte ja bereits auf das niedrige Niveau hingewiesen). Man muss sich aber vor Augen halten, dass dieser 0,39% Verlust bei 8.082.983 befragten Pendlern immerhin für 31.523 Personen steht. Bei insgesamt 103.912 Personen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, entspricht dies immerhin einem Rückgang von 30,3 Prozent! Kann jetzt mit der Radhelmpflicht zusammenhängen, muss aber nicht. Das kann wie gesagt niemand hundertprozentig bestätigen oder negieren. Hier fehlen einfach die Daten!
In Australien wurde die Helmpflicht Bundesstaat nach Bundesstaat eingeführt. Daher kam es zu einem Timelag. In einigen Bundesstaaten wurde die Helmpflicht vor 1991 eingeführt und ist daher in den Zensusdaten des Jahres 1991 enthalten. In anderen Bundesstaaten wurde die Helmpflicht später eingeführt und hatte daher keinerlei Auswirkungen auf den Zensus 1991. In diesen Bundesstaaten ist die Helmpflicht erst 1996 in den Zensus mit eingeflossen: http://j.mp/1bPaqIE
Man erkennt, dass in jenen Bundesstaaten ohne Helmpflicht 1991 der Radverkehrsanteil weiter gestiegen ist, während er in den anderen Bundesstaaten sank. Das Niveau Ende der achtziger Jahre wurde bislang nicht mehr erreicht.
Das alles sind natürlich nur Indizien und keine Beweise. Aber bislang konnte mir noch niemand Daten zeigen / geben, die langfristig keine negative Auswirkung einer Radhelmpflicht auf das Radverkehrsaufkommen nachweisen konnten. Wenn mir jemand die Kompensation des kurzfristigen Rückgangs zeigt, bin ich gerne bereit, dieses Argument zu überdenken. Aber solange dies nicht geschieht, ist dieses Kontraargument mMn auch nicht entkräftet.
Viele Grüße,
Martin Randelhoff
Ich sehe schon, dass Sie den Grimme Online Award völlig zu Recht verdient haben!
Die Sache ist aber… auf dieser Ebene können sowohl Sie als auch ich Recht haben, jeweils im Umkehrschluss:
Ihre Hauptthese war das zitierte da in meinem ersten Kommentar.
Ich sage, Ihre Hauptthese ist aussagelos, weil sie nicht langfristig bewiesen ist, sondern nur kurz-oder gar mittelfristig für einige weit entfernte Regionen.
Sie sagen, solange niemand beweist, dass die Anzahl der Radfahrer (am M.Split) langfristig nicht sinkt, stimme Ihre These, weil die kurzfristigen Zählungen einen Rückgang belegten, der auf die Radhelmpflicht unmittelbar zurückzuführen wäre.
In der Sache aber muss ich Ihrer Befürchtung durchaus Ihr Anrecht einräumen, obwohl es verdammt schwierig ist, langfritsige Tendenzen, besonders, wenn es um “soziale Experimente” geht, vorherzusagen. Niemand weiß, was morgen ist.
Trotzdem ein wirklich großes Lob an den Herrn Redakteur, der den Namen auch verdient. Das ist der Journalismus, den wir brauchen!
Hallo,
zunächst einmal vielen Dank für das Lob. Ich verstehe die Kritik wie gesagt sehr gut. Ich kann nicht sagen, ob ich recht habe oder Sie. Ich möchte dies auch gar nicht.
Mir geht es vielmehr um etwas Anderes: Solange niemand die Folgen einer allgemeinen gesetzlichen Radhelmpflicht richtig abschätzen kann, sollte man diese auch nicht einführen. Vielmehr müssen zunächst umfassende Untersuchungen, die verschiedenste Bereiche und auch Zeiträume abdecken, durchgeführt werden. Ein Schnellschuss aus politischer Motivation heraus, schadet der Sache so oder so.
Ich persönlich würde dann lieber auf die Maßnahme verzichten. Und ich hoffe, ich habe in ausreichendem Maße herausgearbeitet, dass das Themenfeld komplexer ist, als es zunächst erscheint. Sollte in der Diskussion entsprechende Beachtung finden. Dann bin ich nämlich bereits zufrieden!
Viele Grüße,
Martin Randelhoff
Ich denke dafür braucht es keine weiteren Belege sondern nur halbwegs klaren Verstand. Gerade Menschen die etwas in ihre Frisur investiert haben werden sich keinen Helm aufsetzen lassen. Aber wenn man die Helme aus den Schulen verdrängen möchte, da fast alles was vorgeschrieben ist recht schnell out ist dann ist man mit einer Helmpflicht auf dem besten Weg.
Danke für den Artikel. Besser ohne Helm Radfahren als weniger oder gar nicht – das ist wohl das wichtigste Anti-Helmpflichtargument.
Die Zahlen in dem Artikel erscheinem mir allerdings absolut unplausibel, sowohl die Zahlen für die Unfallkosten, als auch die 90 Minuten, die 60 Minuten Radfahren an extra-Lebenszeit bringen sollen. Das kann einfach nicht stimmen. Ist die Bezugsgröße “pro Stunde” wirklich richtig? Pro 100 oder 1000 Stunden erscheint mir realistischer.
Hallo,
die Bezugsgröße “pro Stunde” ist richtig. Siehe auch die entsprechenden Quelle ANDERSEN. Es ist eigentlich auch relativ einfach nachvollziehbar.
Wenn man ein Jahr lang jeden Tag eine Stunde Fahrrad fährt (365 Std.), hat man am Ende des Jahres 547,5 Stunden Lebenszeit “gewonnen”. Das entspricht etwa 22 Tagen längeres Leben. Um insgesamt ein Jahr länger zu leben, muss man mit diesen Werten 16,5 Jahre lang jeden Tag eine Stunde Fahrrad fahren. Kommt mir persönlich recht plausibel vor. Man kann sich auch jetzt einmal überlegen, wie lange die Lebenserwartung zwischen dicken, unsportlichen und schlanken, sportlichen Menschen auseinander divergiert.
Für die Behandlungskosten bzw. die medizinischen Unfallfolgekosten einfach bei AIRAKSINEN nachlesen. Die sind dort auch entsprechend aufgeschlüsselt bzw. argumentativ belegt.
Viele Grüße,
Martin Randelhoff