Singapur ist immer in Bewegung. Wortwörtlich. Heftig. In Autos, in Bussen, in Zügen. Und der Verkehr nimmt in einer Geschwindigkeit zu, die die meisten für den Transport Verantwortlichen erbleichen lässt.
Mehr und mehr Leute sind in Bewegung – rund um die Uhr. Vor drei Jahrzehnten gab es 2,7 Millionen zurückgelegte Wege pro Tag. Heutzutage sind es bereits mehr als 11 Millionen – in Autos, Bussen und Zügen. Aber Singapur hat nur einen geringen Stauanteil, der weltweit so viele Städte zum Stillstand verdammt.
Aljunied MRT Station (EW9) – flickr – Nathan Hayag – Creative Commons
Was ist das Geheimnis? Es ist einfach. Frühzeitige Planung. Zeitnahe Umsetzung. Und massive Investitionen in alle Transportmodi.
Es ist nicht so, dass Singapurs Situation einfach wäre. Der souveräne Staat umfasst nur 710 Quadratkilometer – und ist damit nur ein kleines bisschen größer als New York. In ihm leben 5 Millionen Menschen – vor 30 Jahren war es noch die Hälfte. Ungefähr eine Million Fahrzeuge (davon ca. 40.000 aus Malaysia) fahren beinahe täglich auf dem gut ausgebauten, 3.400 Kilometer langen Straßennetz.
Und anders als in Nachbarstädten wie Jakarta, Bangkok und Kuala Lumpur – von London, Paris und Los Angeles gar nicht gesprochen – ist ein Verkehrskollaps eher die Ausnahme als die Regel.
Und das trotz einer wachsenden Zahl an Fahrzeugen.
1981 gab es 163.355 Autos, heutzutage sind es bereits 570.000. Aber dennoch liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den wichtigsten Verkehrsadern während den Stoßzeiten bei 27 km/h. Zum Vergleich: in London beträgt diese 16 km/h, in Tokio 11 km/h und in Jakarta nur 5 km/h.
Laut Lew Yii Der, Direktor für Politik und Planung der Land Transport Authority (LTA), besteht das Rezept aus zwei wichtigen Zutaten: ein passendes und gut vernetztes öffentliches Verkehrsnetz und ein effektives Nachfragesteuerungssystem um den Verkehrsfluss zu gewährleisten und den Stau in Schach zu halten. Als relativ junger Staat (Singapur wurde erst 1965 unabhängig), hatte man die Chance von anderen, älteren Städten und ihren Verkehrsproblemen zu lernen. Stadtplanung wurde schnell eine Stärke der Regierung und die Verkehrsinfrastruktur ein wichtiger Punkt in ihrem Konzept.
Zu Beginn wurde die Infrastruktur noch nach den Plänen der alten Kolonialmacht Großbritannien gebaut, das hieß vor allem viele Straßen. In den frühen siebziger Jahren wurde die erste von heute sieben Autobahnen eröffnet, inklusive eines vor zwei Jahren eröffneten zwölf Kilometer langen, unterirdischen Autobahnabschnittes und ein für 2013 geplantes Autobahnstück, das nicht unterirdisch, sondern unter Wasser verläuft.
Aber wie in allen größeren Städten ist ein rein auf den Straßenverkehr ausgerichtetes Transportwesen nicht ausreichend. 1987 eröffnete Singapur seine erste Eisenbahnlinie – sechs Kilometer lang mit insgesamt fünf Stationen. Heute gibt es vier Linien mit einer insgesamten Netzlänge von 150 Kilometern und 106 Stationen sowie drei Straßenbahnlinien. 40 Milliarden Singapur-Dollar (~28,4 Milliarden US-Dollar) sollen bis 2020 in den Ausbau des Netzes auf insgesamt über 280 Kilometer Streckenlänge investiert werden. Durch diesen ambitionierten Ausbauplan wird sich der Anteil des ÖPNV an den täglich 11 Millionen Wegen (6 Millionen per MIV, 3 Millionen per Bus und 2 Millionen per Bahn) drastisch erhöhen (sogar wenn weitere Straßen gebaut werden sollten).
LTA Rail Group Direktor Chua Chong Kheng erinnert: “Seit am 22. Oktober 1983 die ersten Schritte gemacht wurden, hat die Regierung stark investiert um den Schienenverkehr zum Rückgrat eines effizienten öffentlichen Verkehrssystems zu machen.”
Wichtigste Zutat: die Stauabgabe
Den Politikern war relativ rasch klar, dass sich das kleine und dicht besiedelte Singapur nicht alleine auf den Straßenverkehr verlassen kann. Die Nachfrage nach Straßenraum, d.h. letztendlich der Verkehr, musste unter Kontrolle gehalten werden. Und am besten war dies durch eine Straßennutzungsgebühr durchsetzbar.
Buchstäblich Jahrzehnte vor anderen europäischen Städten, führte Singapur eine Art “City-Maut-System” ein. Jedes Auto, das während der Geschäfts- und Arbeitsstunden in den Innenstadtbereich fuhr, musste eine starre Mautabgabe zahlen. 1998 wurde dieses System durch ein elektronisches, flexibleres Mautsystem ersetzt, für das jedes Auto in Singapur (ebenso wie jene aus Malaysia) mit einem Karten-Lesegerät ausgestattet sein muss.
Jedes Mal, wenn ein Fahrzeug einen der 69 Checkpoints passiert, wird die tageszeitabhängige Gebühr automatisiert vom Konto abgebucht. Jemand, der während der morgendliche Rush-Hour in die Stadt fährt und mehrere Checkpoint passiert, kann leicht über 10 Singapur-Dollar Maut an einem Tag bezahlen müssen. Dem Vorbild Singapurs folgend haben mittlerweile London, Oslo, Stockholm und Mailand ebenfalls eine Innenstadtmaut eingeführt. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg wollte eine solche Maut auch in New York einführen, wurde aber vom Stadtparlament überstimmt.
Ebenfalls wichtig: man bezahlt für das Recht ein Auto zu besitzen
Singapur führte 1990 eine weitere Maßnahme ein, um den privaten Autobesitz in Grenzen zu halten. Jeder, der ein Auto kaufen möchte muss zuerst ein sogenanntes “Berechtigungszertifikat” erwerben. Diese werden zweimal im Monat versteigert.
Der Preis beträgt circa 20.000 Singapur-Dollar, hat aber schon bis zu 110.000S$ betragen. Zusätzlich bezahlen Autobesitzer 44 Cent Abgabe für jeden Liter Treibstoff (ca. 0,46 US-Dollar).
Die Durchsetzbarkeit
Aber wie hat Singapur es geschafft, solch unpopulären Maßnahmen wie eine Treibstoffabgabe oder ein “Berechtigungszertifikat” durchzusetzen, an denen schon so viele Städte gescheitert sind?
Eine geeinte lokale Regierung mit starker Führung ist sicherlich ein wichtiger Faktor. Aber es gab auch überzeugende Politik.
Die LTA senkte zum Beispiel die Autoregistrierungssteuer stark ab, die vormals bei 200% des Autowerts lag, um somit die Belastung, die durch das “Berechtigungszertifikat” entstand, abzumildern. Und durch ein effizientes Bus- und Bahnnetz wurden die Straßen ein wenig entlastet – “ein effizientes öffentliches Transportsystem, das eine funktionsfähige Alternative darstellt”, so LTA Director of Road Operations Dr. Chin Kian Keong, der das Mautsystem mit entwickelt hat.
Beobachter bezweifeln nicht, dass das Transportsystem als Ganzes effizient sei. Allerdings beschweren sich Pendler immer öfters über überfüllte Züge und lange Wartezeiten, eine Folge des rapiden Bevölkerungswachstums. Dazu kommt, dass auch der Straßenverkehr in den letzten fünf Jahren spürbar zugenommen hat (ca. 3% / Jahr).
Die Stadt reagierte durch höhere Mautraten, einen dichteren Zugfahrplan, mehr Busspuren sowie Investitionen in Höhe von 50 Milliarden Singapur-Dollar in Eisenbahn- und Straßenverkehrsprojekte, die bis zum Jahr 2020 fertiggestellt sein sollen.
Verkehrsminister Raymond Lim hat ein ambitioniertes Ziel: er möchte den Anteil des öffentlichen Personennahverkehrs während der morgendlichen Rush-Hour von 59 Prozent im Jahr 2008 auf 70 Prozent in 10 Jahren steigern. Um dies zu erreichen, muss der ÖPNV genauso schnell und bequem wie der motorisierte Individualverkehr werden.
Analysten begrüßen den Vorstoß, aber kritisieren, dass mehr gegen die aktuelle Situation getan werden müsste. Verkehrswissenschaftler Dr. Lee Der Horng von der nationalen Universität Singapur: “Ich bin besorgt über die Kapazität unseres öffentlichen Nahverkehrs während der Spitzenzeiten und die steigende Stauanfälligkeit unserer Straßen.”
Der Abgeordnete Lim Wee Kiak befürchtet, dass ernste Verkehrsprobleme entstehen könnten, falls nicht mehr zwischen heute und 2020 unternommen werde. “Wir haben ein akutes Problem, das schnelle Lösungen auf kurze und mittlere Sicht erfordert.”
Trotz aller Beschwerden erreichte Singapur 2008 bei einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Gallup über die Zufriedenheit mit dem öffentlichen Verkehrssystem unter 20 Städten weltweit den ersten Platz (Zufriedenheit: 93%). Ob dies in ein paar Jahren noch so sein wird, wird zu sehen sein.
Zu diesem Thema:
Grenzen des Road-Pricing in Singapur (NZZ Online – 15. Februar 2008)
Dieser Artikel ist zuerst auf Citiscope.org erschienen. Mit freundlicher Genehmigung durch Citiscope. Übersetzt von Martin Randelhoff.