Infrastrukturprojekte werden nach ihrer Fertigstellung nur selten evaluiert. “Evaluationen [helfen] valide Informationen über die Auswirkungen und Zusammenhänge vor, während und nach der Durchführung von Projekten systematisch zu erfassen und auszuwerten.”1 Ein Verzicht auf diesen Prozess ermöglicht eine sich über die Zeit fortsetzende Fehleinschätzung, die gerade im Verkehrsbereich aufgrund der langen Wirkungszeiträume von Infrastrukturmaßnahmen fatal ist. Bei der Bewertung von Straßenaus- und -neubauprojekten sind Zeitgewinne von großer Bedeutung. In einem Beispiel aus Großbritannien wurden die angenommenen Zeitgewinne aufgrund des steigenden Verkehrsaufkommens nicht realisiert, die zuvor durchgeführte Nutzen-Kosten-Berechnung ist fehlerhaft. Es sollte daher diskutiert werden, ob die angenommenen und tatsächlich realisierten Reisezeitveränderungen durch Straßeninfrastrukturprojekte systematisch evaluiert und die Rolle der Reisezeitgewinne in der Nutzenbewertung überprüft werden sollte.
Rolle von Zeitgewinnen bei der Bewertung von Straßenausbauprojekten
Die Kosten-Nutzen-Analyse ist ein wichtiger Bestandteil der Bewertungsansätze und -systeme für Infrastrukturprojekte. Sie bewertet den volkswirtschaftlichen Nutzen einer neuen Infrastruktur. Ein wichtiger Faktor sind dabei Zeitgewinne in Form von Reisezeitgewinnen [Personen-h/Zeiteinheit], Transportzeitgewinnen [Tonnen-h/Zeiteinheit] oder verkürzten Fahrzeugeinsatzzeiten [Fahrzeug-h/Zeiteinheit]. Grundannahme ist, dass eine signifikante Reisezeitverkürzung durch die neue Verkehrsinfrastruktur den Nutzen für bestehende und potentielle Nutzer stark erhöht. Diesem Nutzengewinn werden die Kosten der neuen Infrastruktur gegenübergestellt. Investitionsentscheidungen für den Ausbau der Straßenverkehrsinfrastruktur werden ebenso in der Erwartung steigender Verkehrsmengen, daraus resultierender möglicher Überlastungen des Straßennetzes und daraus resultierender Zeitverluste durch Staus getroffen.
Im Bewertungsverfahren des Bundesverkehrswegeplans 2030 (BVWP 2030) wird der Zeitnutzen bspw. über die Veränderung der Reisezeit im Personenverkehr (NRZ) oder im geschäftlichen Pkw-Verkehr über die Nutzenkomponente „Veränderung der Betriebskosten (NB)“, Teil „Personalkosten“ oder im Güterverkehr über die Veränderung der Transportzeit der Ladung im Güterverkehr (NTZ) abgedeckt. Der Methodenbericht des BVWP 2030 enthält eine beispielhafte Nutzen-Kosten-Analyse für den Bereich Straße am Fallbeispiel des Ausbaus der A 61 von vier auf sechs Fahrstreifen zwischen dem AK Koblenz und der AS Rheinböllen. Rund 11.491,158 T€/Jahr des Gesamtnutzens von insgesamt 12.567,333 T€/Jahr entfallen auf Zeitgewinne – das entspricht einem Anteil von 91,4 %!
Bei der Bewertung von Investitionen in den Neu- und Ausbau von Straßen sind die tatsächlichen Zeitgewinne aufgrund ihrer Gewichtung von entscheidender Bedeutung. Sie werden jedoch kaum oder nur in den seltensten Fällen nach Fertigstellung der neuen Straßeninfrastruktur erhoben.
Beispiel: Ausbau der M25 in Großbritannien
In einer Veröffentlichung in Transportation Research Part A: Policy and Practice beleuchtet David Metz den 2014 abgeschlossenen Ausbau eines Abschnitts der Londoner Ringautobahn M25.2 Der 16 Meilen lange Abschnitt zwischen den Anschlussstellen 23 und 27 (J23-27) wurde von drei auf vier Fahrspuren je Richtung ausgebaut (unmittelbar an der Anschlussstelle J25 blieb es aufgrund baulicher Einschränkungen bei drei Fahrstreifen je Richtung). Die notwendigen Flächen wurden durch Auflassung des Standstreifens gewonnen. Zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit wurde Technik zur Erkennung von Verkehrsstörungen und zur Geschwindigkeitsüberwachung installiert (Smart Motorway All-Lane Running (SM-ALR)). Der Ausbau wurde 2014 in zwei Bauabschnitten fertiggestellt.
Drei Jahre nach Fertigstellung lag die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke (DTV) um 16 % über dem Wert vor dem Ausbau. Im gleichen Zeitraum wuchs das regionale Verkehrsaufkommen um 7 %. Der regionale Verkehr hat im gleichen Zeitraum nur um 7 % zugenommen. Die Verkehrszunahme variiert je nach Wochentag, wobei die größte Zunahme mit 23 % an den Wochenenden zu verzeichnen ist, während die Zunahme an den übrigen Tagen je nach Tag und Tageszeit zwischen 6 % und 19 % liegt.3
Die Ermittlung der Reisezeiten erfolgte auf Basis anonymisierter Daten von TomTom. Der Datensatz wurde um Tage mit schweren Unfällen und Baustellen bereinigt.
Die durchschnittlichen Fahrzeiten sind in der folgenden Grafik für Fahrten im und gegen den Uhrzeigersinn für Montag bis Donnerstag, Freitag und Samstag/Sonntag dargestellt.
“Die morgendliche Hauptverkehrszeit lag zwischen 05:30 und 10:30 Uhr (05:00 bis 09:00 Uhr am Freitag), der Zwischenzeitraum zwischen 10:30 und 15.00 Uhr (09:00 bis 15:00 Uhr am Freitag) und die nachmittägliche / abendliche Hauptverkehrszeit zwischen 15:00 und 20:00 Uhr (13:00 bis 20:00 Uhr am Freitag). Bei Fahrten im Uhrzeigersinn gab es im Durchschnitt über alle Tage und Zeitabschnitte hinweg praktisch keine Veränderung zwischen Jahr 3 und davor, wobei die Fahrzeit von 15 Minuten und 47 Sekunden einer Geschwindigkeit von 61 mph entspricht (~98,2 km/h). Gegen den Uhrzeigersinn gab es eine Verbesserung von 15 s (1,4 %) über alle Tage und Zeiten hinweg. Im Jahr 1 wurden insgesamt Fahrzeitverkürzungen von 5 % im Uhrzeigersinn und 9 % gegen den Uhrzeigersinn festgestellt, die jedoch im Jahr 2 wieder verloren gingen. Die Überwachung der Streuung der Fahrtzeitdaten lieferte einen Hinweis auf die Zuverlässigkeit. Im Uhrzeigersinn gab es kaum Veränderungen zwischen vorher und im Jahr 3, während gegen den Uhrzeigersinn eine leichte Verbesserung in der Montag-Donnerstag-Morgenspitze zu verzeichnen war – eine Verringerung der Fahrtzeit des 75 %-Perzentils von 1009 auf 978 Sekunden – während die anderen Zeiten unverändert blieben. Diese Verbesserung der Zuverlässigkeit wurde auf die mögliche Wirkung der variablen Geschwindigkeitsbegrenzungen zurückgeführt, obwohl keine entsprechende Analyse vorgelegt wurde.”4
Insgesamt ist drei Jahre nach Fertigstellung der Ausbaumaßnahme eine deutliche Zunahme des Verkehrsaufkommens, aber keine Verringerung der Reisezeiten festzustellen.
Bei der Ex-ante-Bewertung der Maßnahme wurde von einer Verbesserung des Verkehrsflusses ausgegangen. Ausgehend vom Jahr 2004 wurden ein Nullfall “Do Minimum” (DM) ohne Ausbau des Streckenabschnitts J23-27 und ein Planfall “Do something” (DS) mit den durchgeführten Ausbaumaßnahmen verglichen. Für mehrere Bezugsjahre wurde eine signifikante Verbesserung des Verkehrsflusses durch den Ausbau von mindestens 15 Prozentpunkten gegenüber dem Nullfall ermittelt. Ebenso wurde eine Erhöhung der durchschnittlich gefahrenen Geschwindigkeit auf dem betrachteten Autobahnabschnitt angenommen.
In der Kosten-Nutzen-Analyse für den Ausbau des Autobahnabschnitts wurde der größte Nutzen durch Zeiteinsparungen im gewerblichen Verkehr erzielt: 475 Mio. £, wovon 71 % auf den Personenverkehr und 29 % auf den Güterverkehr entfielen. Die Zeitersparnis für nichtgewerbliche Nutzer wurde weitgehend durch höhere Fahrzeugbetriebskosten kompensiert. Die Verlagerung des Verkehrs vom lokalen Straßennetz auf die Autobahn führte im Verkehrsmodell zu einer Zunahme der durchschnittlichen Reiseweite.5
Der Evaluierungsbericht der Ausbaumaßnahme kommt nach drei Jahren zu folgendem Schluss: “Diese Ergebnisse zeigen, dass Kapazitätssteigerungen erzielt wurden und mehr Güter, Personen und Dienstleistungen befördert werden, während die Fahrzeiten auf dem Niveau vor der Maßnahme bleiben und die Zuverlässigkeit leicht verbessert wurde.”6. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Investition beruhte jedoch weitgehend auf prognostizierten Fahrzeiteinsparungen, die nicht eingetreten sind. Diese Ergebnisse werfen Fragen sowohl zum Verkehrsmodell als auch zur Bewertung des volkswirtschaftlichen Nutzens von Verkehrsinvestitionen auf.
Fazit
Bei der Bewertung von Infrastrukturprojekten kommt der Nutzen-Kosten-Analyse eine große Bedeutung zu. Bei der Ermittlung des Nutzens spielen Zeitgewinne eine herausragende Rolle. Das beschriebene Beispiel aus Großbritannien zeigt, dass sich diese Zeitgewinne nach Fertigstellung nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang materialisieren. Sie stehen damit im Widerspruch zu den Modellergebnissen. Dies wirft grundsätzliche Fragen zur Anwendbarkeit der seit langem etablierten Verkehrsmodelle und zur Bedeutung von Reisezeiteinsparungen als wichtigstem volkswirtschaftlichen Nutzen von Straßeninvestitionen auf. Der Mangel an umfassenden Analysen nach Fertigstellung der Projekte und das Fehlen einer systematischen Überprüfung der Prognosemodelle begünstigen Fehleinschätzungen einzelner Projekte heute und in der Zukunft.
Verweise
- Rammert, Alexander (2017): Integrierte Evaluation. IVP-Discussion Paper. Heft 3/2017. Berlin, S. 11 ↩
- Metz, David (2021): Economic benefits of road widening: discrepancy between outturn and forecast. Transportation Research Part A: Policy and Practice, 147 (1), S. 312–319 ↩
- ebd. ↩
- Metz (2021), S. 314 ↩
- Metz (2021), S. 315 ↩
- Highways England (2018): Smart Motorway All Lane Running M25 J23-27 Monitoring Third Year Report. Highways England. ↩
Sehr Interessant. Mit realistischeren Modellen würden also die meisten Straßen nicht gebaut werden
Vielen Dank für’s Zusammenstellen! Sehr nützlich, das im Hinterkopf und Archiv zu haben.