Straßen sind eine der wertvollsten Ressourcen, die eine Stadt hat. Gleichzeitig werden sie oft vergessen, als Selbstverständlichkeit abgetan und ihre Potenziale bei weitem nicht genutzt. Dies liegt vorrangig daran, dass Straßen gemeinhin als Verkehrsfläche für zumeist motorisierte Fahrzeuge und weniger als öffentlicher Raum wahrgenommen werden.
Stadtstraßen werden heute üblicherweise für die Belange des Verkehrs geplant: der verfügbare Raum wird Fußgängern wie auch einer Vielzahl unterschiedlicher Fahrzeuge zugeordnet und für deren jeweilige Anforderungen gestaltet.
Zunehmend werden Stadtstraßen auch als öffentlicher Raum wahrgenommen. Neben der reinen Aufenthaltsfunktion werden vermehrt weitere Nutzungen wie Märkte, Straßenhandel, künstlerische Interventionen, politische Diskussionsräume sowie Spiel- und Grünflächen in den Straßenraum integriert und aktiv eingeplant.
Der Straßenraum als öffentliches Gut bzw. aufgrund der endlichen Kapazität, der Nicht-Ausschließbarkeit der Nutzung und der Rivalität im Konsum genauer als Allmendegut zu bezeichnen, wird international unterschiedlich genutzt und in Anspruch genommen. Dies hängt oftmals direkt mit dem Entwicklungsstand eines Landes zusammen.
Straßenraum im Wandel
In Deutschland wurde Straßenraum in vorindustriellen Zeiten viel stärker durch die Anwohnerinnen und Anwohner genutzt, Leben und Arbeiten fand weniger im privaten denn im öffentlichen Raum statt.1 Mit der Industrialisierung gewann die Verkehrs- und Transportfunktion an Bedeutung, die soziale Funktion des Straßenraums wurde je nach Milieu schrittweise durch das Private abgelöst.2
Heute dienen öffentliche Straßen(-Räume) primär der Verbindung und Erschließung von Orten für alle Verkehrsträger und werden durch Funktionen versorgungstechnischer (Leitungen, Entsorgung, Notfalldienste), wirtschaftlicher (Zugänglichkeit und Erreichbarkeit), ökologischer (Stadtklima, Bodenversiegelung), sozialer (Nachbarschaft, Inklusion), kultureller (Orientierung und Struktur) und gestalterischer Art (Baukultur, Schönheit) ergänzt. Die Anforderungen an die öffentlichen (Straßen-)Räume einer Stadt sind hierbei differenziert. Wenngleich sie alle eine mehr oder minder attraktive Möglichkeit für Begegnung und Gespräche bieten, sind einige wenige Straßen eines städtischen Straßennetzes mit darüber hinausgehenden Funktionen wie dem Spielen von Kindern, dem Ausruhen und Verweilen oder dem Besuch von Außengastronomie belegt worden.
Diese klaren funktionalen Zuweisungen lösen sich jedoch schrittweise auf. Die Rivalität zwischen verkehrlichen und sozialen Funktionen einer Straße tritt wieder deutlicher zu Tage. Es entstehen Mischformen und neue Verhandlungsprozesse über die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten eines Straßenraums und der Verteilung der zur Verfügung stehenden Fläche. Insbesondere Wohnstraßen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im Rahmen einer Reduktion der dort gefahrenen Geschwindigkeiten wieder stärker dem Kinderspiel und dem sozialen Austausch gewidmet. Es kommt vermehrt zu Diskussionen über die Belegung des Straßenraums durch dort abgestellte Pkw und den damit verbundenen Verlust möglicher Straßenfunktionen.
Bewegung und Raum
Das Funktionieren öffentlichen Straßenraums und öffentlicher Räume als Ganzes ist ohne Bewegung schwer vorstellbar. Bewegung und Verkehr gehören zum öffentlichen Raum dazu – sei es, um dorthin zu gelangen oder um den Raum zu nutzen. Bei Straßen ist dies aufgrund ihrer Verbindungsfunktion immanent.
Die in Straßenräumen herrschende Dynamiken haben sich mit dem Aufkommen des privaten Pkw jedoch stark verändert3. Dies zeigt sich insbesondere durch die Einführung des Begriffs und der Ordnungswidrigkeit des sogenannten “Jaywalking” in den USA, bei dem das Überqueren einer Straße an beliebiger Stelle abseits von Übergängen mit einem Bußgeld belegt wird. Das Asphaltieren von Straßen hat ebenfalls den Komfort sowie die Geschwindigkeit des motorisierten Verkehrs erheblich gesteigert.4
Wandel des Straßenraums
Mittlerweile wird die Rolle des Pkw kritischer gesehen. Zunehmende Diskussionen über “Shared Space”, “complete streets”, deren Pendant “incomplete streets”, “Livable Streets”, etc. und die Herstellung von gleichwertigem Zugang und gleichen Rechten über Versuche wie bspw. die Einrichtung von Begegnungszonen zeigen dies deutlich, wenn auch nicht flächendeckend.
Die Dominanz des Automobils hat sich über die vergangenen Jahrzehnte manifestiert und kann – falls gewünscht – nur begrenzt und mit hohem Aufwand zurückgedrängt werden. Einige Stadträume sind mittlerweile Kfz-frei und Kfz-arm geworden. Fußgängerzonen in der Innenstadt sollen Räume für den Konsum von Gütern und Kultur schaffen, autoarme oder autofreie Wohnviertel die Belastungen des Kfz-Verkehrs vom unmittelbaren Wohnumfeld fernhalten und eine sichere Umgebung insbesondere für Kinder schaffen.
Im Vergleich zu vielen Industrieländern haben sich die Funktionen von Straßenraum in Schwellen- und Entwicklungsländern weniger stark der verkehrlichen Funktion untergeordnet, wenngleich der Wandel im Verkehrsbereich auch hier neue Herausforderungen bedeutet.5 Dies zeigt sich, wenn man zehn Straßenräume aus unterschiedlichen Ländern und Weltregionen betrachtet, welche durch die Global Designing Cities Initiative filmisch festgehalten wurden:
Accra, Ghana
In der ghanaischen Hauptstadt Accra zeigt sich primär die Funktion einer Straße als sozialer Raum. Der motorisierte Verkehr spielt eine untergeordnete Rolle. Die Aneignung und temporäre Privatisierung des öffentlichen Gutes “Straße” durch Händler und Gewerbetreibenden dominiert die Hauptstraßen, Handel und Märkte haben eine wichtige Rolle im Straßenbild. Die klare Zuordnung des Straßenraums wird aufgebrochen, eine eindeutige Trennung zwischen Gehweg und Fahrbahn ist insbesondere bei Betrachtung des Nutzungsverhaltens nicht erkennbar.
Bandung, Indonesien
In der indonesischen Stadt Bandung sind deutliche Unterschiede zwischen Hauptstraßen und Nebenstraßen erkennbar. Motorroller und Pkw dominieren das Straßenbild, Fußgänger werden an den Rand gedrängt. Diese wirken stark gefährdet, da keine passende Infrastruktur zur Verfügung steht. Aufgrund fehlender Regeltreue und Rücksichtnahme wirken sie wie Freiwild. Die Nutzung des Straßenraums als öffentlicher Raum findet nur begrenzt statt, vielmehr werden Plätze zum Spielen und Aufenthalt genutzt. Im Nebenstraßennetz sind die Unterschiede weniger stark ausgeprägt, es existieren aber auch dort starke Infrastrukturdefizite.
São Paulo, Brasilien
Die Straßenräume im brasilianischen São Paulo sind stärker geordnet und auf die verkehrliche Nutzung hin ausgerichtet. Es existieren Radwege und Querungsmöglichkeiten für Fußgänger, einzelne Räume wie bspw. die Fußgängerzone sind dem nicht-motorisierten Verkehr vorbehalten. Gleichzeitig existieren große Hauptstraßen und urbane Autobahnen. Flächen zum Entspannen und Spielen finden sich eher im Nebenstraßennetz, teilweise erfolgt aber auch eine Raumaneignung bspw. über Parklets. Die Straße wird auch zur politischen Meinungsäußerung über Demonstrationen oder Graffitis genutzt.
Fortaleza, Brasilien
Die Straßenräume im brasilianischen Fortaleza sind stark unterschiedlich. An der Küste existieren breite Boulevards mit Aufenthalts- und Spielmöglichkeiten. Das Bikesharing-Angebot ist direkt im Straßenraum integriert, es existieren auch Radwege und Schutzstreifen. Die Bedingungen sind aber nicht durchgängig gut. Insbesondere Fußgänger haben teilweise keine adäquate Infrastruktur. Die Straßenentwässerung ist verbesserungswürdig.
Chennai, Indien
Die Straßenräume im indischen Chennai werden intensiv genutzt. Neben ihrer verkehrlichen Funktion besitzen sie viele weitere Funktionen, insbesondere in den Bereichen Handel und Dienstleistungen. Aufgrund der starken Verkehrsmenge kommt es zunehmend zu Verkehrsproblemen und Umweltverschmutzung. Neben vielen Fußgängern dominieren Autorikschas und Motorroller das Straßenbild, der Pkw kommt nur vereinzelt vor. Zwischen den motorisierten Verkehrsteilnehmern herrscht wenig Ordnung, Kommunikation erfolgt häufig über über Hupen.
Mumbai, Indien
Die Straßenräume im indischen Mumbai ähnlich stark den Straßen in Chennai. Jedoch scheinen Querschnitte wie auch Verkehrsmenge größer zu sein. Neben Motorrollern und Fußgänger dominieren verstärkt Pkw und auch Busse das Bild. Im Straßenraum sind viele weitere Funktionen wie bspw. Friseure zu finden.
Neu-Delhi, Indien
Die Straßenräume im indischen Neu-Delhi sind ähnlich zu anderen indischen Städten: voll, laut und chaotisch. Neben Autorikschas sind noch vermehrt Fahrradrikschas anzutreffen. Die vielen verwinkelten Gassen sind für Pkw wenig geeignet.
Melbourne, Australien
In der australischen Stadt Melbourne ist im Straßenraum die verkehrliche Funktion dominierend. Spezielle Radverkehrsinfrastruktur und barrierefreie Gehwege sind vorhanden, der ÖPNV besitzt teilweise separierte Infrastruktur. Einige Straßen sind Fußgängern vorbehalten. Enge Gassen mit Cafés und Restaurants, die attraktive Gestaltung von Plätzen mit Sitzgelegenheiten bieten Menschen Raum zum Verweilen und der Kunst einen Platz im öffentlichen Raum. Neben Installationen sind auch Straßenmusiker zu finden.
Auckland, Neuseeland
Im neuseeländischen Auckland sind Straßenräumen ebenfalls klare Nutzungen zugewiesen. Im Zentrum finden sich viele Restaurants mit Außenbereichen, in Gassen und auf Plätzen existiert eine hohe Aufenthaltsqualität. Es kommt ebenfalls zu einer künstlerischen Aneignung.
Sydney, Australien
Das australische Sydney gleicht Melbourne und Auckland: es existierte eine Mischung aus verkehrlichen Aufgaben von Straßen mit Radwegen und ÖPNV-Infrastruktur. Dies wird durch angrenzende Restaurants und Geschäfte ergänzt. Im Zentrum finden sich wiederum Fußgängerzonen mit Straßenkünstlern und einer entsprechenden Aneignung.
Straßenräume – aktiv und passiv, starr und flexibel, statisch und mobil, einfach und komplex
Es zeigt sich, dass Straßenräume im globalen Kontext stark unterschiedliche Räume bieten und Aufgaben übernehmen. Da Straßen in ihrer Raumaufteilung und ihrer Gestaltung nicht von vornherein vorbestimmt sind, sondern geplant werden, stellt sich die Frage, welche Funktionen eine Straße übernehmen soll und welche Bedingungen dafür geschaffen werden müssen.
Es wird deutlich, dass Stadtstraßen als gleichzeitige Räume für Mobilität und menschliche Interaktion geplant werden sollten. Sie sollen Bewegung mithilfe verschiedener Verkehrsarten genauso wie Interaktion, Verweilen, politische Äußerung und Spielen ermöglichen.
Dies setzt eine höhere Flexibilität öffentlicher Plätze und Straßen voraus, um die unterschiedlichen und sich zeitlich und räumlich verändernden Ansprüchen an Raum gerecht zu werden. In einer Straße bewegen sich verschiedene Verkehrsteilnehmer mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, während gleichzeitig Menschen im und mit dem Straßenraum interagieren und kommunizieren. Der Nutzungsmix verändert sich in seiner Zusammensetzung darüber hinaus zeitlich nach Tageszeit, Wochentag und Jahreszeit.
Es stellt sich die Frage, wie diese Flexibilität vor Ort planerisch abgebildet werden kann. Welche Rahmenbedingungen sind dafür notwendig? Welche Kontexte sind zu beachten bzw. in welchen Kontext ist eine Mehrfachnutzung von Straßenraum zu setzen? Welche Elemente werden für eine stärkere Durchmischung und Veränderbarkeit von Stadtstraßen benötigt? Welche Anforderungen existieren?
Neben der gestalterischen Ebene sind zudem Entscheidungen über die Flächenzuweisung zu treffen. Wer soll wem zu welchem Zeitraum welche Räume zuweisen? Welcher Grad an Freiheit, Flexibilität und Kontrolle ist notwendig? Wie kann der Wechsel von einer Nutzung zur anderen ausgestaltet werden?
In den vergangenen Jahren ist die Funktion von westeuropäischen Stadtstraßen häufig auf ihre verkehrliche Bedeutung reduziert worden. Die Anforderungen an nutzungsdurchmischte Stadtquartiere mit kurzen Wegen und einer Versorgung vor Ort, machen ein neues Nachdenken über Straßenräume notwendig. Die Förderung der körperlichen Aktivität und Bewegung, des Fuß- und Radverkehrs, des ÖPNV (Weg von und zur Haltestelle), der Freiflächenverfügbarkeit, der Verkehrssicherheit, der sozialen Kontakte in der Stadt und die Reduktion der spezifischen Wohnflächenbedarfe durch Auslagerung von sozialer Interaktion in den öffentlichen Raum stellen neue Anforderungen an den Straßenraum. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Straßenraumkonzepten aus anderen Teilen der Welt oder historischen Beispielen hierzulande lässt neue Qualitäten entstehen. Eine Beschäftigung, die lokal eine höhere Lebens- und Wohnqualität entstehen lässt.
- Apel, D. (1995): Stadtstraßen als öffentlicher Raum. Grenzen stadtverträglicher Belastbarkeit mit Kfz-Verkehr. In: Archiv für Kommunalwissenschaften. Jg. 35; Band 1; S. 92 ↩
- a.a.O., S. 93 ↩
- Norton (2015): Of love affairs and other stories. In: Agyeman, J. und Zavetovski, S. (Hrsg.): Incomplete streets: Processes, practices, and possibilities. Kapitel 2. Oxon: Routledge. ↩
- Reid, C. (2015): Roads were not built for cars. Washington, D.C.: Island Press. ↩
- Mehta, V. (2015): The street as ecology. In: Agyeman, J. und Zavetovski, S. (Hrsg.): Incomplete streets: Processes, practices, and possibilities. Kapitel 6. Oxon: Routledge. ↩
[…] City streets and public spaces have to be designed more flexibly in order to meet changing demands. Questions that arise from this, are, for example, those according to the framework conditions, according to contexts that have to […]