Fußgängerzonen kleiner und mittelgroßer Städte, oftmals ein trostloser Anblick denn geschmückte Flaniermeile mit eleganten Geschäften. Optisch wenig ansprechend, Filialgeschäfte und Ketten haben den inhabergeführten Fachhandel schon lange verdrängt, das “Shopping-Erlebnis” verlagert sich in sterile Einkaufszentren. Ein Teufelskreis: Das schlechte Angebot im Innenstadtbereich lässt das Einkaufszentrum noch attraktiver werden, Kaufkraft fließt ab, der hohe Leerstand im Innenstadtbereich wird durch kostensensitive Ein-Euro-Läden und “Billig-Ketten” genutzt und am Ende bleibt Ödnis. Ein Zustand, mit dem weder Politik noch Einzelhandel denn Bevölkerung zufrieden ist – obwohl sie alle dazu beigetragen haben.
Aber: Die Aufenthaltsqualität der Innenstädte spielt zunehmend eine wichtigere Rolle. Es wurde erkannt, dass ausblutende Innenstädte der gesamten Stadt nicht gut tun und man Chancen zur Umgestaltung nutzen sollte, wenn sie sich denn bieten. Wie beispielsweise in Siegen.
Die im südlichen Teil Nordrhein-Westfalens (Siegerland) gelegene Stadt Siegen (Oberzentrum mit rund 100 000 Einwohnern) wird durch den Fluss Sieg durchflossen. Im 2. Weltkrieg wurden rund 80 % der Infrastruktur Siegens zerstört. Nach dem Krieg lag der Fokus auf dem Bereitstellen funktionaler Infrastruktur und Wohnraum.
Im Zuge des Wiederaufbaus und dem städtebaulichen Leitbild einer autogerechten Stadt wurde in den Jahren 1967 und 1968 die Sieg im Innenstadtbereich auf einer Länge von 250 m mit der Siegüberkragung überbaut. Die 5.100 m² große “Siegplatte” bot Parkraum für 230 Pkw und erfüllte die damalige öffentliche Forderung nach zentral gelegenen Parkmöglichkeiten.”Mein Auto schwebt über der Sieg”, hatte die Stadtverwaltung das Bauwerk in den späten sechziger Jahren beworben.
Die Siegplatte bestand hauptsächlich aus aufgelegten Betonfertigteilelementen, welche 20 m über das Gewässer reichten (prozentualer Flächenanteil von etwa 80 % der Gewässerbreite). Im Bereich des Siegbettes lagen die Fertigteile auf einer Pfeilerreihe mit 29 Pfeilern und einem Unterzug auf. Am Ufer lagerte die Platte auf einer Ufermauer und einem Randbalken auf Bohrpfählen.
Nach mehr als 30-jähriger Nutzung wies die Siegüberkragung einen hohen Sanierungsbedarf auf. Der bauliche Zustand insbesondere der Bewehrung war so schlecht, dass die Überkragung neu errichtet hätte werden müssen.
Neben einer Sanierung wurden auch ein Rückbau und die naturnähere Gestaltung der Sieg zur Naherholungsstätte kontrovers diskutiert. Insbesondere der ansässige Einzelhandel fürchtete Umsatzeinbußen wegen der wegfallenden 230 Parkplätze. In unmittelbarer Umgebung finden sich jedoch drei Parkhäuser (Morleystraße, City-Galerie und Hindenburgstraße), die nur zu 70 Prozent ausgelastet waren. Auch das vorgebrachte Argument “Siegen sei eine ‘Einkaufsstadt’, kein ‘Badeort'” war wenig belastbar.
Im September 2009 schrieb die Stadt Siegen im Rahmen des Strukturförderprogramms REGIONALE-2013 die Umgestaltung der Sieg europaweit aus. Im Frühjahr 2010 wurde der Entwurf des Atelier Loidl Landschaftsarchitekten in Zusammenarbeit mit BPR Dr. Bernhard Schäpertöns & Partner zum Siegerentwurf gekürt.
Das Pflaster im Flussbett soll entfernt und durch ein natürliches Sohlsubstrat ersetzt werden. Das rechte Ufer wird treppenartig bis an den Gehweg herangeführt und bietet ansprechende Aufenthaltsmöglichkeiten. Darüber hinaus soll die bauliche Trennung von Ober- und Unterstadt abgemindert werden.
Das Projekt „Siegen – zu neuen Ufern“ und der damit verbundene Abriss der Siegplatte wurde am 06.09.2012 begonnen.
Zuvor fand die größte Kunstaktion, die es jemals im öffentlichen Raum der Stadt Siegen gab, auf der Siegplatte statt. Unter dem Motto „Platte:Kunst“ gestalteten rund 600 Schülerinnen und Schüler die 3.000 qm große Fläche nach ihren kreativen Vorstellungen. Mit der zweitägigen Veranstaltung „Tschüss Platte! Hallo Sieg!“ feierte die Stadt Siegen den Abriss der Siegüberkragung. Zum Abschied schlenderten nochmals rund 25.000 Besucher zum letzten Mal über die Siegplatte.
Am 25.10.2012 wurde die letzte Platte der Siegplatte abgebrochen. Die Baumaßnahmen sollen bis Juni 2015 abgeschlossen sein. Das Investitionsvolumen für die Umgestaltung der Sieg in Siegen-Mitte beträgt über 14 Millionen Euro.
Neben der Freilegung der Sieg und der Umgestaltung des Siegufers wird im Rahmen des Stadtumbauprojekts das Untere Schloss zu einem Campus für 3500 Lernende und 200 Lehrende umgestaltet. Die Fußgängerzone Bahnhofstraße wird überarbeitet. In unmittelbarer Umgebung des Bahnhofs und der Bahnhofsstraße befindet sich das Einkaufszentrum “City Galerie” mit 100 Geschäften und 23.500 m² Verkaufsfläche, in welche die meisten Filialisten und Ketten umgezogen sind. Bis zur Errichtung dieses neuen Zentrums hatte die um den historischen Stadtkern gewachsene „Oberstadt“ auf dem Siegberg den Mittelpunkt des Handelslebens in der Stadt Siegen gebildet. Die Verlegung führte zu einer bis heute anhaltenden Verödung des historischen Mittelpunkts. Der historische Mittelpunkt hat seine Funktion als solcher aufgeben müssen und hat inzwischen mehr den Charakter eines Nebenzentrums.
Die Sandstraße, vormals vierspurig geführt, wurde auf zwei Spuren eingeengt, was zum einen zu einer Verkehrsberuhigung führt, zum anderen Platz schafft für Kurzparkerstellplätze entlang der Geschäftsfront. Am Kölner Tor wurde eine platzähnliche Situation geschaffen. Dafür wurde die Bushaltestelle Kölner Tor in Richtung Obergraben verlegt. Auf der gegenüberliegenden Seite entstand eine neue Haltestelle, die unter anderem die gute Erreichbarkeit des Universitätsstandortes Unteres Schloss gewährleistet.
Im Jahr 2013 wurde „Siegen – zu neuen Ufern“ Publikumssieger beim Wettbewerb „Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen”. Sehr positiv fällt die Kommunikation über den Baufortschritt auf. Auf der Webseite zum Projekt wird in einem Projekttagebuch kontinuierlich über den Stand der Arbeiten berichtet. Bürgermeister, Stadtbaurat und Stadtführer führen zudem interessierte Bürgerinnen und Bürger in regelmäßigen Führungen über die Baustellen und erläutern Errichtung des Campus mit Umnutzung des Unteren Schlosses, den Umbau der Kölner Straße, die Freilegung der Sieg und die aufwendige Gestaltung des Siegufers.
Die Ladenzeile entlang der Freitreppe bietet theoretisch sehr gute Bedingungen für Gastronomie mit einer hohen Aufenthaltsqualität im Außenbereich. Auf der rechten Sieg-Seite befanden sich Ende April ein Optiker, ein asiatischer Supermarkt, ein Reformhaus, ein Florist, ein C&A-Bekleidungsgeschäft, das Modegeschäft La Differenza und nur ein Café in Ecklage. Es bleibt zu beobachten, ob es nach Fertigstellung des Siegumbaus und der Freitreppe in diesem Bereich zu Veränderungen kommt.
Baustellen-Impressionen vom 28.04.2015
Ein Lichtblick!
Die phantasievolle Rückeroberung des Siegufers darf in eine Reihe gestellt werden mit dem neugeschaffenen Phönix-See in Dortmund-Hörde. Dort ist eine Industriebrache zugunsten einer Marina aufgelöst worden.
Mit dem Wasser kommt eine ganz andere Luft und immer auch ein bisschen Sehnsucht nach dem Meer.
Ihr werdet es genießen.