Dies ist ein Gastartikel von Jörg Kwauka. Wenn auch Sie Interesse haben, hier einen Gastartikel zu veröffentlichen, dann schreiben Sie uns bitte.
Meine persönliche Motivation zum Thema
Dass es sich lohnt, das Verkehrsmittel Zu-Fuß-Gehen unter die Lupe zu nehmen, weiß ich seit meiner Bachelorarbeit. Damals beschäftigte ich mich mit dem Fußverkehr aus der Sicht der Evakuierungsanalysen (z.B. für die Loveparade 2010 in Duisburg nachträglich erstellt). Dabei fiel mir auf, dass in einem Fundamentaldiagramm – der Grundlage der Straßenverkehrsplanung – für den Fußverkehr die gleichen Regeln anwendbar sind wie für Pkw. Also stellte ich für mich fest, dass der Fußverkehr, bzw. das Zu-Fuß-Gehen, ein gleichwertiges Verkehrsmittel im Verkehrssystem ist, eigene Stärken und Schwächen aufweist und ganz eigene Bedürfnisse hat.
Mit der Akzeptanz dieser Gleichwertigkeit wurden mir immer häufiger Schwachstellen bei der Fußverkehrsinfrastruktur (Überquerungsstellen, Gehwege, Wegweisung etc.) im Alltag bewusst. Die wohl bekanntesten Begriffe, die jedem dazu einfallen, sind „Gehwegparker“ und „Trampelpfade“. Schaue ich mir deutsche Städte an, wird mir bewusst, wie häufig Schwachstellen im Autoland Deutschland die Stadtszenerie säumen. Wer ist vielleicht auch schon mal über eine rote Fußgängerampel gegangen, hat überfüllte Gehwege als nervig empfunden oder hat Angst vor dunklen Gassen oder Kraftfahrzeugen gehabt?
Ein Artikel über den Copenhagenize Index auf dem hiesigen Blog inspirierte mich dazu, mich für meine Masterarbeit mit der quantitativen Bewertung des Fußverkehrs in Städten zu beschäftigen, damit der Fußverkehr als gleichwertiges Verkehrsmittel betrachtet werden kann. Die Grundlage für die Bewertung ist der perpedesindex 2016 (siehe Kapitel 3). Um Zugang zum Thema zu finden, kann sich der Leser bei Bedarf zunächst den Kapiteln 1 und 2 widmen, welche einen kleinen Exkurs zur Thematik Fußverkehr beinhalten.
1 – Fußverkehr, ein Grund loszugehen
Die sozialste und natürlichste Form der Fortbewegung ist der Fußverkehr. Jeder Weg, der mit dem Rad, dem Auto oder dem ÖPNV bestritten wird, schließt Fußetappen mit ein. Der Fußverkehr ist sozusagen das Schmiermittel der Mobilität. Die Hälfte aller Wege unter zwei Kilometern werden per pedes unternommen und in den Zentren der Städte sogar 75 %. Der weit überwiegende Teil der europäischen Städte ist zu einer Zeit entstanden, als der Fußverkehr die dominierende Verkehrsart war, die aber heute aufgrund der Zersiedlung und dem städtebaulichen Leitmotiv einer autogerechten Stadt durch Autofahrten ersetzt wurde. So besagt eine Statistik aus Österreich, das im Jahre 1950 mehr als 66 % der Wege zu Fuß unternommen wurden und im Jahre 2010 nur noch 19 %. Betrachtet man den Fußverkehr auf internationaler Ebene, so wird deutlich, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern einen hohen Fußgängeranteil besitzt (siehe Abbildung 1).
Das Verkehrsmittel birgt in vielen Belangen große Vorteile gegenüber anderen Verkehrsmitteln, für den Einzelnen und für die Allgemeinheit. Zu Fuß gehen kann ein Großteil aller Menschen zu jederzeit und ohne Hilfsmittel. Gleichzeitig ist der Fußverkehr ressourcenschonend, verursacht die wenigsten Emissionen, ist gesund und benötigt die geringste Fläche aller Verkehrsmittel. Personen, die zu Fuß gehen, beleben öffentliche Räume und tragen dabei zur Attraktivität einer Stadt bei. Die Menschenleere auf Gehwegen oder Plätzen hingegen ist meistens Sinnbild für den Begriff des Angstraumes. Nichtdestotrotz steht die geschaffene Umgebung für den Fußverkehr in vielen Städten in starkem Kontrast zu seiner Bedeutung. Bei der Verteilung von Flächen wird der Fußverkehr häufig anderen Verkehrsmitteln untergeordnet. Entsprechend ist die Infrastruktur für den Fußverkehr selten durchdacht. Häufig besitzen Wegenetze Schwächen in Sachen Verkehrssicherheit, Barrierefreiheit und Attraktivität. Ausnahmen bilden dabei häufig die Zentren von Städten, welche u.a. als „Reservate für Fußgänger“ bezeichnet werden können.
Der demografische Wandel bedeutet für viele Städte einen Einwohnerzuwachs und eine Verschiebung hin zu einer älteren Bevölkerung. Ältere Menschen werden immer aktiver und bewegen sich wesentlich häufiger zu Fuß als Bevölkerungsgruppen aus dem Erwerbstätigenalter. Von 2002 bis 2008 steigerte sich die Anzahl der Wege von Personen der Altersgruppe 65-74 Jahre von 2,8 auf 3,2 Wege pro Tag. Diese Altersgruppe legt 32 %, die noch ältere Gruppe 74+ sogar 38 % ihrer Wege zu Fuß zurück. In Anbetracht dieser Entwicklungen werden Städte zukünftig noch stärker einen Wettbewerb um Einwohner führen. Städte mit einer hohen Lebensqualität werden dabei zu den Gewinnern gehören. Hierfür muss die Stadt- und Verkehrsplanung dafür Sorge tragen, dass die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger in Zukunft befriedigt werden können.1
2 – Anforderungen und Eigenschaften des Fußverkehrs
Dieser Abschnitt soll zur Einführung in die Thematik lediglich einen groben Überblick über die Eigenschaften und Anforderungen des Fußverkehrs geben. Weiterführende Literaturempfehlungen meinerseits zu diesem Thema sind:
INTERNATIONAL TRANSPORT FORUM (2012): Pedestrian Safety, Urban Space and Health, OECD Publishing, Paris
KNOFLACHER, HERMANN (1995): Fußgeher- und Fahrradverkehr- Planungsprinzipien, Böhlau Verlag, Wien
SCHMITZ, ANDREAS (2012): Fachgutachten Fußverkehr Leipzig, Bericht für die Fortschreibung des Stadtentwicklungsplans „Verkehr und öffentlicher Raum“, Kassel
WEIDMANN, ULRICH (1993): Transporttechnik der Fußgänger, Zürich
2.1 Gehwegbreite
Laut den Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen (EFA) (2002) liegt das Breitenmaß eines Fußgängers bei 0,8 m. Für einen in Gegenrichtung passierbaren Gehweg müssen neben dem zweifachen Maß für Fußgänger ebenfalls Abstände u.a. für die Sicherheit eingeplant werden. Hierdurch entsteht das Regelmaß für Gehwege von 2,5m (siehe Abbildung 2), welches eigentlich nur in Ausnahmefällen geringer ausfallen darf. Wenn man sich nun die Mühe macht, selbst den Gehweg vor seiner Haustür zu messen und ihn mit der Fläche für die Kraftfahrzeuge vergleicht, wird mit Sicherheit bei dem einen oder anderen deutlich, wie der Straßenraum nichtsdestotrotz zugunsten der Motorisierung verteilt wurde.
Das Regelmaß bildet dabei jedoch „nur“ die untere Grenze. Die Feststellung für die Gehwegbreite richtet sich nach der Funktion und den Anforderungen der Nutzer (z.B. Aufenthalt):
- Gehwege auf Straßen mit hoher Achsenfunktion 4,5 m
- Gehwege auf Straßen sonstiger Achsenfunktion 3,5 m
- Gehwege auf restlichen Straßen 2,5 m
- Freizeit- und Wanderwege angepasst an Nachfrage und Umfeld
2.2 Geschwindigkeit
Die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit liegt bei 1,34 m/s (4,83 km/h). Diese wird durch viele Faktoren, wie z.B. Alter, Größe und Tageszeit beeinflusst. Des Weiteren hängt die Geschwindigkeit von der gegebenen Personendichte (Personenanzahl pro m²) ab. Hohe Personendichten sorgen für geringe Geschwindigkeiten, wovon man sich an Bahnhöfen zu Stoßzeiten, bei Fußballspielen oder auf Volksfesten überzeugen kann. Bei einer Fußgängerdichte von mehr als 5,5 Personen/m² kommt ein Personenstrom zum Erliegen. Was dies im Extremfall bedeutet, wissen wir spätestens seit dem Unglück auf der Loveparade 2010.2
2.3 Informationsniveau
Im Gegensatz zu anderen Verkehrsmitteln ist das Zu-Fuß-Gehen sehr stark mit seiner Umwelt gekoppelt und es ergibt sich das Phänomen, dass durch eine gestalterisch ansprechende Straßenraumgestaltung und der Umgebung (nicht lineare Wege, Beleuchtung, Begrünung etc.) deutlich längere Strecken zurückgelegt werden.
Einen Beweis für die starke Kopplung mit der Umwelt fand eine Schweizer Untersuchung bei der Auswertung von gemalten Schulwegbildern von Kindern. Kinder wie Sandra (7 Jahre; Abbildung 3 links) werden mit dem Auto zur Schule gefahren und nehmen bis auf ein paar Vögel ihre Umwelt auf diesem Weg nicht weiter wahr – ganz im Gegensatz zu Kindern wie William (7 Jahre; Abbildung 3 rechts), der seine gesamte durchgangene Umwelt in diesem Bild verewigt hat.
2.4 Weitere Stärken und Schwächen des Fußverkehrs
Stärken | Schwächen |
---|---|
Hohe Verkehrssicherheit: Durch gesellschaftliche Normen und der geringen Geschwindigkeit ist die Wahrscheinlichkeit, dass andere Personen im Verkehrsgeschehen durch Zu-Fuß-Gehende zu Schaden kommen, verschwindend gering. | Umwegeempfindlichkeit und Steigungsempfindlichkeit: Zu-Fuß-Gehende versuchen aufgrund des natürlichen Energiehaushaltens ihren Weg stetig zu verkürzen und zu vereinfachen (Trampelpfade entstehen, Rolltreppen werden eher als normale Treppen genutzt) |
Geringe Emissionen: Lärmbelästigung sowie Feinstaub- und CO2-Emissionen sind nur in einem nicht relevanten Ausmaß vorhanden. | Ästhetische Empfindlichkeit und Witterungsempfindlichkeit: Unästhetische Wege werden gemieden und durch andere ersetzt oder es wird ganz vom Gehen abgesehen. Gleiches gilt für das Gehen an kalten, regnerischen und/oder extrem windigen Tagen. |
Hohe Steigfähigkeit: Dies ermöglicht, unter schwierigen Topografien die Erreichbarkeit zu sichern. |
3 – Der perpedesindex 2016 und seine Indikatoren
Der Fußverkehr findet bisher aus medialer Sicht nur einen geringen Stellenwert. Während für andere Verkehrsmittel bereits Indizes zur Wertung der jeweiligen Qualität in deutschen Städten bestehen, allen voran für den Radverkehr, war ein Index, der den Fußverkehr nach einem einheitlichen Prinzip in einer Vielzahl von Städten untersucht, nicht gegeben. Diese Lücke wollte ich schließen. In meiner Masterarbeit wurde der Fußverkehr für alle 76 deutschen Großstädte mit über 100.000 Einwohnern (Berlin bis Moers) untersucht. Dies wurde mithilfe verschiedener, auf transparente Weise hergeleiteter Indikatoren sowie deren Übertragung in den eigens erstellten perpedesindex 2016 realisiert.
Als Erstes versuchte ich mich daran, in der Fußverkehrspolitik erläuterte Qualitätsziele und Indikatoren für den Fußverkehr zu finden. Wie bereits erwähnt, ist der derzeitige Stellenwert des Fußverkehrs relativ gering, sodass ich zunächst aus Quellen keine passenden Indikatoren für einen Index finden konnte.
Im nächsten Schritt wollte ich herauszufinden, welche Determinanten aus Bereichen wie aus Stadtplanung, Umwelt und Psychologie den Fußverkehr berühren, um daraus Indikatoren ableiten zu können. Dabei konnten mir wissenschaftliche Ausführungen zum Thema der Walkability (Gesamtbegehbarkeit) (siehe Abbildung 4) diese Determinanten liefern.
In einem weiteren Schritt untersuchte ich die nationale und internationale Fußverkehrspolitik grundlegend auf Ziele, die sich Staaten und Kommunen auferlegt haben, um den Fußverkehr zu verbessern. Darunter zu finden sind vor allem die Verkehrsentwicklungsplanung (VEP), die Luftreinhalteplanung (LRP) und die Lärmminderungsplanung (LMP) sowie Fußverkehrskonzepte auf kommunaler Ebene, Fußverkehrsstrategien wie z.B. der „Masterplan Gehen“ auf nationaler Ebene und rechtsverbindliche Dokumente wie z.B. die European RoadSafety Charter auf internationaler Ebene.
In einem letzten Schritt habe ich bestehende Indizes unabhängig von den Schwerpunkten ihrer Betrachtungen (Copenhagenize Index, ADFC-Fahrradklimatest, Bundesländerindex Mobilität, Walk Score) auf
- Methodik (Anzahl und Struktur der Untersuchungsräume, Anzahl und Zusammensetzung der Indikatoren, Themenbereiche/Zielgrößen),
- Besonderheiten, sowie
- die aktuellsten Platzierungen der Rankings
untersucht und miteinander verglichen, um bereits evaluierte Indikatoren oder Themenbereiche, z.B. zur Einschätzung des Radverkehrs in Städten, in meinen perpedesindex 2016 zu übertragen.
Aus den politischen Zielen, den Ergebnissen meiner Untersuchung anderer Indizes, sowie aus den Determinanten der Walkability konnte ich daraufhin Zielgrößen für meinen Index definieren (siehe Abbildung 5).
Aus diesen Zielgrößen habe ich nach allgemein gültigen Anforderungen3 Indikatoren abgeleitet. Aufgrund einer fehlenden übergreifenden Statistik oder Vergleichsgröße für die Barrierefreiheit konnte diese Zielgröße nicht mit einem Indikator berücksichtigt werden. Ebenso floss die Fußverkehrspolitik nicht direkt in den perpedesindex ein, da die konkrete Zuweisung einzelner Finanzmittel für den Fußverkehr in den Kommunen nicht erhoben werden konnte.
Das Ergebnis der Voruntersuchung ist der perpedesindex 2016 (siehe Abbildung 6), welcher aus folgenden Indikatoren besteht:
- getötete Fußgänger pro 1 Mio. Einwohner (Verkehrssicherheit)
- Anteil des Fußverkehrs im Modal Split
- Umwegefaktor (Erreichbarkeit)
- Motorisierungsgrad (Verkehrsbelastung)
- Erholungsfläche pro Einwohner (Attraktivität)
Eine Gewichtung der einzelnen Indikatoren untereinander wurde nicht vorgenommen. Jeder der fünf Indikatoren besitzt das gleiche Gewicht von 20 % im perpedesindex. Ein frei erstelltes Gewichtungssystem würde dem Problem gegenüberstehen, eine Berechtigung für die unterschiedliche Bewertung der Einflussfaktoren nachzuweisen. Die Gewichtung innerhalb der Indikatoren wurde wiederum mithilfe von Interpolation durchgeführt. Die Ergebnisse werden normalisiert, wobei der beste Wert aller Städte eines Indikators einen Punktewert von 100 bzw. der schlechteste Wert einer Stadt 0 Punkte erhält. Die Werte dazwischen werden interpoliert und orientieren sich damit an den jeweiligen Grenzwerten. Der Vorteil der Normalisierung auf 0 bis 100 Punkte ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Indikatoren untereinander, sowie die Möglichkeit einen Durchschnitt aller Indikatoren zu bilden.
Während der Motorisierungsgrad und die Erholungsfläche pro Einwohner schnell über das das statistische Bundesamt erhoben werden konnten, mussten die anderen Indikatoren aufwendiger erhoben werden:
- Umwegefaktor (Quotient aus Luftliniendistanz und Reiseweg): Der Umwegefaktor wurde mithilfe der Fußgängerroutensuche von Google Maps realisiert. Dabei wurde in allen untersuchten Städten jeweils das Rathaus „angepingt“ und ein Radius von einem Kilometer gesetzt. Es gab insgesamt 4 Routenabfragen von den jeweiligen Kreisgrenzen (Nord- Süd, Ost-West, Nord Ost- Süd- West, Nord West- Süd Ost), aus denen ein Durchschnitt errechnet wurde und die jeweils mit der Luftlinie (2 km) korreliert wurde.
- Getötete Fußgänger pro 1 Mio. Einwohner: Dieser Wert wurde entweder aus der öffentlich zugänglichen Verkehrsstatistik der Polizeipräsidien, jedoch wesentlich häufiger auf Anfrage erhobener Daten von Leichtverletzten (LV), Schwerverletzten (SV) und Getöteten (G) Fußgängern aufgenommen. In der Risikobewertung gibt es eine Heuristik (100 LV = 10 SV = 1 G), die ich dafür angewendet habe, um die Daten zusammenzufassen.
- Modal Split: Derzeit gibt es keine diesbezügliche grundlegende Verkehrsuntersuchung mit der Bandbreite an Städten, die der perepedesindex 2016 bietet. Jedoch wird im Mikrozensus 2012 abgefragt, welches das am meisten genutzte Verkehrsmittel auf dem Weg zur Arbeit ist. Dieser Wert konnte für alle Städte erhoben werden.
Gesamtergebnisse
Den höchsten Wert erreichten die Städte Jena und Rostock mit jeweils 76 Punkten. Diese Städte wiesen Bestwerte bei den Indikatoren Modal Split, Motorisierungsgrad und Verkehrssicherheit auf und führen damit den perpedesindex 2016 an. Die Stadt Jena erhielt, bis auf den Indikator Erholungsflächenanteil, bei allen Indikatoren Werte über 85 Punkte, was ein Alleinstellungsmerkmal unter allen Städten darstellt. Ferner erreichten die Städte Göttingen (73), Halle (Saale) (69) und Aachen (67) nennenswert hohe Punktewerte. Die geringsten Werte wiesen Saarbrücken (39), Regensburg (38) und Heidelberg (36) auf. Die Stadt Heidelberg konnte aufgrund ihrer sehr geringen Stadtfläche und ihrer besonderen Stadtstruktur bei den Indikatoren Umwegefaktor und Erholungsflächenanteil keinen Punkt erhalten. Saarbrücken ist die Stadt mit dem niedrigsten Wert für den Indikator Verkehrssicherheit und erreichte ebenfalls einen sehr niedrigen Punktwert für den Indikator Erholungsflächenanteil (4 Punkte). Insgesamt weisen die meisten Städte einen Gesamtpunktwert zwischen 50 und 60 auf. Nur die drei jeweils o.g. Städte erhielten einen Punktewert unter 40 bzw. über 70 Punkten. Der durchschnittliche Punktewert des perpedesindex beträgt 56 Punkte, der von 35 Städten überschritten wird.
Alle erreichten Punktwerte werden in Abbildung 7 dargestellt sowie in einer Onlinekarte, bei der jeder schauen kann, welche Platzierung „seine“ Stadt erreichte:
Anmerkung: Alle Werte in der Onlinekarte sind Punktwerte und nicht reale Werte.
Mithilfe einer Sensitivitätsanalyse wurden die Indikatoren des perpedesindex 2016 geprüft. Dabei wurde die Gewichtung der einzelnen Indikatoren verändert und die dabei entstehenden Endergebnisse auf starke Abweichungen überprüft. Innerhalb der Prüfung konnten lediglich geringe Abweichungen festgestellt werden. Obgleich einer Sensitivitätsanalyse keinerlei Regeln unterstehen, kann der perpedesindex 2016 nach statistischen Gesichtspunkten als sicher betrachtet werden.
Interpretation mithilfe von Einflussfaktoren
Nachdem ich den perpedesindex 2016 erstellt hatte, stellte sich für mich die Frage, welche wissenschaftlichen Aussagen man über die Ergebnisse treffen kann. Dies versuchte ich anhand einer Korrelation von Einflussfaktoren wie
- Stadtgröße (Fläche und Einwohnerzahl),
- Jugend- und Altenquote,
- Schuldenstand pro Kopf in den Kommunen,
- Geografische Lage und
- Anteil der Studierenden in der Stadt
mit den Ergebnissen des perpedesindex 2016. Des Weiteren versuchte ich die einzelnen Indikatoren miteinander zu korrelieren um bspw. Aussagen zu treffen wie: „Eine Stadt mit einem hohen Modal Split-Anteil besitzt gleichzeitig einen hohen Erholungsflächenanteil“. Nachdem ich zahlreiche Daten miteinander korreliert hatte, konnten folgende Aussagen getroffen werden:
- Städte mit höheren Einwohnerzahlen besitzen schlechtere Werte im Indikator Verkehrssicherheit.
- Größere Städte (ausgehend von Einwohnerzahl und Stadtfläche) weisen einen geringeren Umwegefaktor auf.
- Größere Städte (ausgehend von Einwohnerzahl und Stadtfläche) besitzen einen geringeren Motorisierungsgrad.
- Städte mit einer größeren Stadtfläche besitzen mehr Erholungsfläche pro Einwohner.
- Kleinere Städte (ausgehend von Einwohnerzahl und Stadtfläche) besitzen einen höheren Anteil des Fußverkehrs im Modal Split.
Für alle anderen Einflussfaktoren konnte keine wissenschaftliche Aussage getroffen werden, aufgrund sehr geringer Bestimmtheitsmaße. Wobei auch bei den oben genannten Ergebnissen aufgrund von Bestimmtheitsmaßen von weniger als 0,2 lediglich von Tendenzen gesprochen werden kann.
Den deutlichsten Unterschied zeigte eine Gegenüberstellung von Städten der alten Bundesländer mit Städten der neuen Bundesländer (siehe Abbildung 8).
Kurzfazit
Der Fußverkehr wird in Zukunft vom demografischen Wandel profitieren. Der perpedesindex 2016 kann seinen Teil dazu beitragen, Städte zu ermutigen, den Fußverkehr in ihrer Stadt- und Verkehrsplanung stärker einzubeziehen. Als vergleichendes Instrument mit einer Vielzahl von Indikatoren ist der perpedesindex 2016 signalgebend für Stadtplaner, Politiker und Verbände. Aus diesem Grund wurden die Ergebnisse allen untersuchten Kommunen, deren Polizeipräsidien und Stadtplanern, sowie einschlägigen Verbänden in Form der erstellten Karte zugestellt. Die Reaktionen auf die Ergebnisse werden erste Hinweise geben, ob der Fußverkehr seine Rolle als gleichwertiges Verkehrsmittel einnehmen kann.
Bei der Auswahl der Indikatoren hat sich gezeigt, wie schwierig es ist, den Fußverkehr ohne eine gute Datengrundlage zu messen. Für eine verbesserte und periodische Erstellung des perpedesindex könnten hierfür aufwendigere Methoden für die Erhebung gewählt werden, wie z.B. eine repräsentative Befragung. Ferner wäre für die Erstellung eines fortlaufenden perpedesindex die Vergrößerung des Fragenpools im Zensus von Deutschland auf weitere Kenngrößen des Verkehrs wünschenswert.
Verweise
- vgl. DLR- Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. Institut für Verkehrsforschung, infas- Institut für angewandte Sozialwissenschaft (2010): Mobilität in Deutschland 2008, Berlin, Ergebnisbericht, Struktur- Aufkommen- Emissionen- Trends, Berlin, S. 71, 171. ↩
- Vgl. Weidmann, Ulrich (1993): Transporttechnik der Fußgänger, Zürich, S. 17 ff. ↩
- Vgl. Dietrich, Edgar; Schulze, Alfred; Weber, Stefan (2007): Kennzahlensystem – für die Qualitätsbeurteilung in der industriellen Produktion, Hanser Verlag, Weinheim, S. 14-15, verfügbar unter: http://www.beck-shop.de/fachbuch/leseprobe/9783446410534_Excerpt_001.pdf (abgerufen am 17.11.15, 18:17 MEZ). ↩
Mitte Mai ist bereits vorbei, wird die Arbeit noch veröffentlicht?
Herzlichen Dank für diesen Ausgezeichneten Artikel und dafür, dass Sie das Thema Fussgängerfreundlichen Stadt versuchen zu quantifizieren.
Meiner Meinung nach haben Sie von den verfügbaren Daten die richtigen herausgesucht, um einen rein statistischen Index anzulegen. Ein Ranking soll aus meiner Sicht auch dazu führen, dass sich die Städte verbessern. Deshalb wäre es wichtig, auch einen Faktor einzubauen, wo schnelle Fortschritte möglich sind. In ihrem Index, ist dies begrenzt nur beim Umwegfaktor möglich. In vielen Städten ist das Kartenmaterial über die reinen Fusswege nur mangelhaft vorhanden. Wenn eine Stadt dieses Material aufbereitet und in die jeweiligen Onlinekarten-Dienste einspeist, sinkt der Umwegfaktor rechnerisch. Insbesondere für Ortsfremde Fussgänger/innen ist diese Information eine Qualitätsverbesserung.
Ich habe noch eine Frage zum Modalsplit: Wie wird der Modalsplit in Deutschland berechnet? Wenn ich zu Fuss zur S-Bahn, dann mit der S-Bahn fahre und danach zu Fuss zur Arbeit? Werden dann die einzelnen Wegetappen berücksichtig, oder wird nur das Hauptverkehrsmittel pro Weg berücksichtig?
Ich freue mich schon auf ihren Speeddating Beitrag an der Walk-Space Konferenz in Baden bei Wien.
Hallo Herr Buchelli,
Vielen Dank für ihr Kommentar. In meinen Augen können durch politische Maßnahmen und gesellschaftliche Veränderungen vor allem die Indikatoren der Verkehrssicherheit, des Modal-Splits und des Motorisierungsgrades sich verbessern. Dennoch gebe ich Ihnen Recht, dass aus diesen statistischen Daten nur bedingt eine sofortige Verbesserung aus einzelnen Maßnahmen für den Fußverkehr sichtbar gemacht werden können (z.B. wenn die Stadt beschließt ein Wegeleitsystem aufzustellen usw.). Mit erheblichen Mehraufwand könnte man entweder den Indikator der Verkehrspolitik (z.B. Budget € für den Fußverkehr/ Einwohner) oder eine Meinungsabfrage der Bevölkerung in den perpedesindex 201X einfließen lassen, um das Gesamtbild des Fußverkehrs in den Städten noch stärker zu verdeutlichen.
Modal- Split: Wie immer gibt es da nicht die EINE Lösung in Deutschland. Im perpedesindex 2016 wurden die Daten aus dem Mikrozensus 2012 verwendet. Diese Befragung legt jedoch den Fokus vor allem auf klassische Einwohnerdaten (Arbeitsstand, Alter, verheiratet usw…), weshalb für den Modal-Split ausschließlich die einfache Frage gestellt wird: “Mit welchem Verkehrsmittel kommen Sie zur Arbeit?”. Hierbei werden also gar keine einzelnen Wegeetappen berücksichtigt. Andere Studien aus Deutschland, wie z.B. dem”Mobilität in Städten, SrV” und “Mobilität in Deutschland, MiD”, werten hingegen an einem Stichtag die die jeweiligen Etappen aus und fassen diese in Hauptverkehrsmittel zusammen, wobei auch hier Unterschiede bezßüglich der einberechneten “kleineren” Fußwegeetappen (z.B. Weg zum Briefkasten etc.) vorherrschen. Leider konnten diese Studien nicht verwendet werden, da Sie die untersuchten Städte des perpedesindex 2016 nicht vollständig abdecken konnten.
Auf Bald in Baden
Einerseits ist das immerhin einmal ein Ansatz zur Quantifizierung, doch ergeben sich erhebliche Verschiebungen durch geographische Besonderheiten der Städte, wie man im Vergleich der führenden Städte mit den Schlusslichtern sieht. Eine Flächenstadt hat naturgemäß üppige Erholungsflächen, während bei anderen Städten die Grenzen zu ländlichen Nachbargemeinden sehr eng gezogen sind. Auch messen die Städte ihre Erholungsflächen unterschiedlich: Bei manchen sind das nur die Parkanlagen, bei anderen vermutlich auch das Straßenbegleitgrün oder z.T. sogar landwirtschaftliche Flächen innerhalb der Stadtgrenzen. Beim Umwegefaktor haben die Städte Glück, bei denen das Rathaus am Schnittpunkt von geradlinig entlang der Himmelsrichtungen verlaufenden Straßen liegt. Da hat dann schnell mal eine autogerechte Innenstadt, wo dies so ist, einen guten Umwegefaktor und eine historische Altstadt mit verwinkelten Gassen einen schlechten.
Wurde die Zahl der getöteten Fußgänger über mehrere Jahr oder nur für ein bestimmtes Jahr erfasst? Gerade für kleinere Großstädte ist die Zahl – glücklicherweise – niedrig und unterliegt auch hohen statistischen Schwankungen.
Einen Indikator in dieser Art könnte natürlich analog für den Radverkehr bestimmt werden. Die Einflussfaktoren sind im Prinzip die gleichen, man müsste nur die Anzahl der getöteten Radfahrer ansetzen und beim Umwegefaktor einen Weg von vielleicht 3 oder 4 Kilometer.
Hallo Herr Wöhrle,
vielen Dank für die konstruktive Kritik. Meine Gedanken dazu:
Der Indikator Erholungsfläche pro Einwohner berechnete sich aus der Regionaldatenbank des statistischen Bundesamtes. Dabei sind Erholungsflächen folgender Maßen definiert: “Die Erholungsfläche umfasst unbebaute Flächen, die überwiegend dem Sport, der Erholung oder dazu dienen, Tiere oder Pflanzen zu zeigen. Hierzu gehören u.a. Grünanlagen einschließlich Parks, Schrebergärten und dgl. sowie Sportflächen und Campingplätze.” Dies schließt weder Wald- noch Landwirtschaftsflächen mit ein. Welche Flächen direkt darunter fallen, wird deutschlandweit einheitlich im Verzeichnis der flächenbezogenen Nutzungsarten im Liegenschaftskataster geregelt.
Der Indikator Umwegefaktor wurde mithilfe von insgesamt vier Suchabfragen für alle Himmelsrichtungen und Zwischenhimmelsrichtungen erhoben. Durch die Abfrage in einem weitläufigem Gebiet konnten vor allem Städte mit verwinkelten Gassen und Straßen gute Ergebnisse erzielen. Städte mit einer geradelinigen Struktur, allen voran Mannheim, erzielten eher schlechtere Ergebnisse.
Der perpedesindex 2016 ist für eine kontinierliche Messung ausgelegt. Der Indikator Verkehrssicherheit wurde daher aus den Verkehrssicherheitsberichten bzw. durch direkte Nachfrage zu Daten des vergangenen Jahres erhoben. Durch den Einsatz einer Heuristik für die Umrechnung von Leichtverletzten, Schwerverletzten und getöteten Fußgängern wurden statistische Schwankungen minimiert.
Statistische Daten für den Radverkehr sind weit besser zu erheben. Beispielsweise könnte eine Erhebung der zugewendeten Finanzmittel stattfinden. Mit einer Erweiterung könnte man die Qualität des Radverkehrs noch deutlicher abbilden.
Vielen Dank für die zusätzlichen Infos!
Danke für diesen Beitrag, der die Aufmerksamkeit auf Alternativen zu den Gegebenheiten und den Standards der derzeitigen Mobilitätsmöglickeiten lenkt. Wie und wo wollen wir uns im Alltag im öffentlichen Raum bewegen? Es lohnt sich, darüber eine bewusste Entscheidung zu treffen und die Wahlmöglichkeiten zu erhöhen.
Faszinierend. Wenn ich bei mir in der Region mal schaue, hat kein Gehweg mehr wie 2,5m. Eher bedeutend weniger würde ich ganz spontan sagen.
Danke für den Artikel!
Gibt es irgendwo die ganze Masterarbeit zum anschauen/runterladen?
Mich interessieren besonders detailiertere Daten der Städte hier in der Region. (Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg)
Wie Heidelberg auf den letzten Platz bez. Umwegefaktor und Erholungsflächenanteil kommt ist mir ein absolutes Rätsel. Das ist eine Flanierstadt von internationalem Rang mit sehr hoher Aufenthaltsqualität. Es gibt dort sehr viele Erholungsflächen, in der Altstadt, aber auch im Grünen. (Neckarwiese, Philosophenweg, Schlossumfeld). Merkwürdig, dass das die Indikatoren nicht abbilden.
Hallo Joma,
Meine gesamte Arbeit wird vsl. bis Ende Mai auf den Seiten des Instituts für Verkehr und Raum Erfurt als Bericht veröffentlicht( http://www.fh-erfurt.de/fhe/vur/download-bereich/berichte-des-instituts-verkehr-und-raum/).
Wenn du auf die einzelnen Städte auf der eingeblendeten Karte schaust, kannst du die einzelnen (Punkt-)Werte für deine Städte ablesen.
Zu Heidelberg:
Der Umwegefaktor wurde innerhalb eines 1 km Radius vom Rathaus bemessen. Setzt man diesen Kreis auf Heidelberg an, so befindet man sich im südlichen Teil bereits auf den Berghängen der Stadt, weshalb ein sehr hoher Umwegefaktor entsteht. Dies ist sicherlich für die Stadt Heidelberg unglücklich, jedoch in Hinblick auf eine einheitliche Erhebungsstruktur ein folgerichtiger Wert.
Den Indikator Erholungsfläche habe ich mithilfe der Daten des statistischen Bundesamtes erhoben. Die Stadt Heidelberg erreichte einen Wert von 14m² Erholungsfläche pro Einwohner. Der Erholungsflächenanteil berechnete sich in Korrelation mit der Einwohnerzahl, weswegen man diesen Indikator vor allem als einen quantitativen Indikator betrachten sollte, welchen Magdeburg mit 108m² Erholungsfläche pro Einwohner deutlich für sich entscheiden konnte.
Danke für die ausführliche Antwort!
Fußverkehr ist so selbstverständlich und braucht so wenige Voraussetzungen, dass er immer irgendwo hinten ansteht. Erst mit einer überalternden Bevölkerung, wo zu Fuß gehen auch für große Gruppen etwas wird, was nicht mehr selbstverständlich ist, wächst die Aufmerksamkeit für Probleme des Fußverkehrs. Eine überfällige Entwicklung, Danke für diesen Beitrag.