Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden zählt in Verkehrsbelangen nicht wirklich zur Riege der progressiveren Städte in Deutschland. Schlagzeilen macht man vielmehr als wiederholtes Schlusslicht beim ADFC-Fahrradklimatest. Es fehlt nahezu an allem: ausreichend breiten Radwegen, durchgängigen Radverbindungen und Abstellmöglichkeiten für Fahrräder. Wiesbaden ist mit ihren 290.000 Einwohnern nach Münster zudem die zweitgrößte deutsche Stadt, die weder eine Straßenbahn noch eine U-Bahn hat. Rückgrat des städtischen ÖPNV ist der Bus.
Veränderungen erreicht man im Allgemeinen nicht durch Verzweifeln und Schimpfen, sondern durch konsequentes und zukunftsgerichtetes Handeln. Aufgrund des Infrastrukturzusammenhangs und der kulturellen Prägung / Sozialisation erfolgt der Wandel im Verkehrsbereich vergleichsweise langsam und nicht von heute auf morgen. Umso wichtiger sind klare Forderungen aus der Bürgerschaft an die Politik und klare Bekenntnisse und Aussagen von derselben. Und natürlich gilt auch hier: “Die Wahrheit über die Ziele einer Stadt findet man nicht in ihrer Vision. Sondern in ihrem Budget.”
Wiesbaden scheint die Notwendigkeit von Veränderungen und den daraus folgenden Bedarf einer Gestaltung der Zukunft erkannt zu haben: Mit dem Radwegebauprogramm sollen bis 2019 jährlich jeweils 2,9 Millionen Euro in den Ausbau des Radverkehrs fließen. 2018 soll das Bikesharing-System MVGmeinRad der Nachbarschaft Mainz auf Wiesbaden ausgedehnt werden. Gedacht ist zunächst an 500 Mieträder an rund 50 Stationen. Das kommunale Verkehrsunternehmen ESWE Wiesbaden hat die Bestellung von 221 Elektrobussen ausgeschrieben und möchte ab 2019 voraussichtlich 55 Dieselbusse pro Jahr durch Elektrobusse ersetzen.
Darüber hinaus prüft die Stadt Wiesbaden den Bau einer überregionalen und länderübergreifenden Stadtbahnstrecke zwischen Bad Schwalbach und den Landeshauptstädten Wiesbaden und Mainz. Die gesamte Streckenlänge beträgt rund 34 km (davon rund 11 km Neubaustrecke) und soll in Meterspur ausgeführt werden (Spurweite der Mainzer Straßenbahn).
Die Strecke soll ab dem Bahnhof Bad Schwalbach über die ehemalige Aartalstrecke zum Bahnhof Wiesbaden, Wiesbaden-Ost und weiter über die Theodor-Heuss-Brücke nach Mainz und dort bis zum Hauptbahnhof-West (Weiterfahrt auf der bestehenden Teilstrecke der “Mainzelbahn”) bis zur Haltestelle “Hochschule Mainz” führen. Auf der Theodor-Heuss-Brücke über den Rhein sollen zwei der vier Fahrstreifen für die Stadtbahn genutzt werden. Der Betriebshofs der Mainzer Straßenbahn soll genutzt und auf einen Neubau verzichtet werden. Dies soll Kosten senken. Die Kosten werden auf rund 200 Millionen Euro veranschlagt (Projektbeschreibung der ESWE Versorgungs AG).
Neben der Politik und den kommunalen Organisationen / Strukturen kommen Impulse für eine Verkehrswende auch aus der Bürgerschaft direkt. Das Kiezkaufhaus als Online-Handelsplattform für regionale Produkte mit Lastenrad-Lieferung ist eines dieser Beispiele.
Den Willen zur Veränderung habe ich zudem im Rahmen eines Vortrags in Wiesbaden im Mai 2017 und den anschließenden Diskussionen und Gesprächen gespürt. Denn die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden steht wie alle anderen Städte ebenfalls vor der Herausforderung, die Weichen für die Zukunft zu stellen, Planungen anzustoßen und einen Konsens in der Stadtbevölkerung über die Ausrichtung der Verkehrspolitik herzustellen.
Meinen gesamten Vortrag mit Einleitung kann man hier vollständig auf Youtube ansehen (00:12:40 – 01:05:30):
Im Anschluss folgte noch eine Diskussion mit Oberbürgermeister Sven Gerich sowie Umwelt- und Verkehrsdezernent Andreas Kowol und allen Interessierten, die sich primär auf lokale Gegebenheiten und Herausforderungen bezog.
Abstract zum Vortrag
Stadt in Bewegung
Wie ist Wiesbaden in der Zukunft unterwegs?
Der Mobilitätssektor befindet sich derzeit im Wandel – neue Technologien, die Digitalisierung, der Wandel in der Produktion von Energie und Gütern sowie die Herausforderungen der nahen und fernen Zukunft transformieren das Unterwegssein und Städte. Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden steht wie alle anderen Städte ebenfalls vor der Herausforderung, die Weichen für die Zukunft zu stellen, Planungen anzustoßen und einen Konsens in der Stadtbevölkerung über die Ausrichtung der Verkehrspolitik herzustellen.
Die Digitalisierung bietet viele Möglichkeiten, verschiedene Verkehrsmittel zu vernetzen und Mobilität auch ohne eigenen Pkw sicherzustellen. Auskunftssysteme bieten die Möglichkeit, verschiedene Verkehrsmittel mit ihren spezifischen Vorteilen für einzelne Wege zu kombinieren, zu buchen und im Falle einer Störung über Alternativen informiert zu werden.
Daten und Informationen helfen auch, Infrastruktur effektiv zu planen und zu betreiben. Insbesondere in der Fuß- und Radverkehrsplanung bieten datenbasierte Planungswerkzeuge neue Chancen und Möglichkeiten wichtige Routen zu identifizieren. Daten können auch helfen, die Überlastung von Verkehrsnetzen vorherzusagen und Probleme vor ihrer Entstehung bspw. über Preissignale zu lösen.
Stadtentwicklung, Stadtstruktur und Mobilität sind eng miteinander verknüpft, sie bedingen sich gegenseitig. Kurz gesagt: Stadt formt Mobilität formt Stadt. Nachdem das Automobil im Sinne des Leitbildes der autogerechten Stadt die Stadtplanung des 20. Jahrhunderts lange dominiert hat, wird heute das Ziel einer menschengerechteren Stadt verfolgt. Wie sehen Konzepte für eine derartige Stadt aus, welche Planungsprinzipien gelten und wie kann Stadt- und Mobilitätsplanung den Herausforderungen Ressourcenschutz, Klimaschutz und Luftreinhaltung gerecht werden?
Mobilität beginnt an der Haustür. Es stellt sich daher auch die Frage, wie Wohnen und Mobilität enger miteinander verzahnt werden kann. Wie werden Flexibilität und Agilität in einer Stadt auch ohne Pkw hergestellt? Und welche Möglichkeiten könnte die Zukunft bieten?
Mobilität ist ein essentieller Bestandteil unseres Lebens. Was geschieht mit einer Stadt wie Wiesbaden und auch unserem persönlichen Unterwegssein, wenn sich die Welt der Mobilität wandelt? Welche Richtung sollte eingeschlagen werden, welche Weichen sind heute zu stellen, damit Wiesbaden auch in Zukunft ein attraktiver Wohn- und Arbeitsort bleibt? Viele Fragen und Herausforderungen – wir laden Sie ein, gemeinsam nach Antworten zu suchen.
Ich komme aus Frankfurt/Offenbach, und habe Wiesbaden bis jetzt vor allem als Servicetechniker für Callabike kennengelernt. In der Funktion hab ich ne Menge Fahrräder am Hauptbahnhof in einen Sprinter geladen und sie immer wieder zu den höher gelegenen Stationen gefahren.
Kurzum: Wiesbaden ist keine Fahrradstadt, so wie Stuttgart oder Nürnberg auch keine Fahrradstadt sein kann, da müssen andere Konzepte her, die Stadt setzt auf die falsche Karte, das Geld wird nur verbrannt.
Hallo Martin,
dein Besuch und der Vortrag war sehr anregend und hat hoffentlich dazu beigetragen, dass die hessische Landeshauptstadt nach Jahrzehnten der Autozentriertheit endlich zukunftsfähig in Sachen Mobilität wird. Eine kleine Korrektur: unsere Stadt hat mittlerweile 290.000 Einwohner.
Radelnde Grüße
Dirk Vielmeyer http://www.fahrradbotschaft.de
Hallo Dirk,
Vielen Dank für den Hinweis. Ich habe es angepasst. Und mir hat der Vortrag und die Diskussion in Wiesbaden auch viel Spaß gemacht. Es war mir eine Freude und ich bin gespannt, in welche Richtung sich eure Stadt weiterentwickelt.
Viele Grüße
Martin