Welcher ÖPNV-Nutzer kennt es nicht? Man steht an einer Haltestelle, wartet auf den Bus 1 und der Bus kommt einfach nicht. Man wartet, blickt – falls vorhanden – auf die dynamischen Fahrgastinformationsanzeiger, auf denen der Zeitraum bis zur Ankunft des Busses wie eingebrannt zu sein scheint. Eine Minute scheint, losgelöst von jeglicher Zeitmessung, unendlich dehnbar zu sein. Parallel zur Verspätung wächst die Genervtheit. Irgendwann fällt auf, man hat ja Zeit, dass die nachfolgenden Busse keinerlei Probleme zu haben scheinen und nur der eine Bus, den man gerne nehmen möchte, Probleme macht. Mit sich verfinsternder Miene wird die Situation beobachtet, bis der Bus mit gehöriger Verspätung die Haltestelle ansteuert. Man macht sich bereit zum Einsteigen, doch der Bus ist bereits voll.
Und nicht nur der Bus ist voll, sondern auch die Haltestelle. Denn Bus 2 und 3 der gleichen Linie warten bereits blinkend, um die Haltestelle ebenfalls anfahren zu können. Nach kurzer Wartezeit kann man in einem nahezu leeren Bus Platz nehmen. Was ist hier passiert?
Das von Newell und Potts (1964) erstmals beschriebene Phänomen der Pulkbildung (auch: Nonius-Effekt genannt) tritt hauptsächlich auf ÖPNV-Linien mit dichter Fahrzeugfolge und hoher Auslastung auf.2 Ursache sind häufig kleine Verzögerungen, wie beispielsweise die Tür aufhaltende Fahrgäste, von Pkw blockierte Busbuchten, längere Wartezeiten an Kreuzungen im Berufsverkehr, usw.
Durch die Addition der vielen kleinen Verzögerungen sammelt der Bus Verspätungsminuten, der Abstand zum vorausfahrenden Bus wird schrittweise größer. Während die Wartezeit an der Haltestelle wächst, erhöht sich parallel die Zahl der dort wartenden Fahrgäste weiter. Das Ein- und Aussteigen dauert immer länger, die Zahl der Ein- und Aussteiger wächst, der Bus wird immer voller, das Ein- und Aussteigen dauert nochmals länger, usw. Gleichzeitig findet der nachfolgende Bus nahezu leere Haltestellen vor und kann seinen Fahrplan halten. Irgendwann hat er den verspäteten Bus eingeholt.
Das Überholen des verspäteten Busses löst das Problem der Pulkbildung nicht. An der nächsten Haltestelle dürfte der – nun nachfolgende – volle verspätete Bus wieder auf den anderen Bus auflaufen. Das Auslassen der Haltestelle ist aber auch keine Lösung, denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass aus dem vollen Bus jemand aussteigen möchte.
Durch die ungleichmäßige Belastung der eingesetzten Fahrzeuge mit Fahrgästen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Fahrgastwechselzeiten (verspätete Fahrzeuge sind verspätungsanfälliger, verfrühte verfrühungsanfälliger) kommt es zu einem Schrumpfen der Fahrzeugfolgezeit, bis letztendlich ein Fahrzeugpulk entstanden ist.
Das Phänomen der Pulkbildung lässt sich einfach in der Simulation “Why Do Buses Bunch?” des Verkehrsingenieurs Lewis Lehe und des Designers Dennys Hess nachvollziehen. Durch kurzes Aufhalten von einem der beiden Busse entsteht nach kurzer Zeit ein Pulkeffekt, der sich nur schwer wieder auflösen lässt.
Wie lässt sich das Problem lösen?
Das Phänomen der Pulkbildung lässt sich kaum auflösen oder vermeiden. Insbesondere der Busverkehr und Straßenbahnen ohne eigenen Gleiskörper sind anfällig für Störungen von außen. Eine hohe Verkehrsstärke, Falschparker (zweite Reihe) und andere äußere Einflüsse lassen schnell Verspätungen und damit verbunden Pulkfahrten entstehen.
Vermeiden lassen sich diese Verzögerungen nur durch eine entsprechende Trennung der Verkehrsarten wie bspw. durch die Anlage von (temporären) Busspuren insbesondere in den Abschnitten, in denen Verspätungen entstehen oder kleine Verspätungen aufgeholt werden können. Hierzu gehört auch ein konsequentes und schnelles Entfernen von falsch parkenden Fahrzeugen. Ebenfalls möglich sind die Umsetzung einer durchgängigen Busvorrangberechtigung an Lichtsignalanlagen, die Umgestaltung von Knotenpunkten (Busschleusen, Abbiegestreifen) und die Neuordnung von Straßenräumen (Abbiegeverbote, Neuordnung des Parkraums, etc.)
Eine weitere Möglichkeit zur Stabilisierung und Rekalibrierung von Fahrplänen ist die Einführung von längeren Haltezeitfenstern an größeren Haltestellen.3 Fahrzeuge haben an ausgewählten Haltestellen eine planmäßige Aufenthaltszeit von mehreren Minuten, die als Pufferzeit im Verspätungsfall dient.4 Dieses Vorgehen kann auch für eine Entzerrung im Falle einer Pulkfahrt dienen, ist aber nur bei Taktfolgezeiten von mindestens zehn Minuten praktikabel. Zu beachten ist zudem, dass sich die Reisezeit für die Fahrgäste ebenso wie die Zahl der benötigten Fahrzeuge mit Personal erhöht.
Neuere Forschungsergebnisse und Anwendungen setzen vermehrt auf die Abschaffung starrer Fahrpläne und Taktfolgezeiten. Dynamische Verfahren sind vor allem bei Fahrzeugfolgezeiten von unter zehn Minuten anwendbar. Hierbei wird versucht, den Verkehr in einem Gleichgewicht abzuwickeln, das heißt, die Abstände zwischen den einzelnen Fahrzeugen stabil zu halten. Die einzelnen Fahrten werden ständig optimiert und dem Fahrpersonal Informationen bezüglich der optimalen Geschwindigkeit5 und 6 bzw. den optimalen Wartezeiten übermittelt.7 Durch das Gleichgewicht befindet sich in jedem Fahrzeug eine ähnliche Zahl von Fahrgästen. Stark besetzte oder gar überfüllte Fahrzeuge erzeugen größere Verspätungen. Ankommende Fahrzeuge sollten daher immer Platz zur Aufnahme weiterer Fahrgäste haben. Mitunter ist es auch sinnvoll, die eingesetzten Fahrzeuggrößen bei entsprechender Spitzennachfrage zu vergrößern. Durch das Vorhalten einer Kapazitätsreserve in Kombination mit mehr Türspuren werden die Fahrgastwechselzeit beschleunigt, die Verspätung minimiert und Pulkfahrten vermieden. Die Umstellung von Normalbussen auf Gelenkbusse bzw. von Gelenkbussen auf Straßenbahnen kann, auch bei Streckung der Taktzeit, durch die insgesamt höhere Kapazität, die pro Platz günstiger zu produzieren ist, die Stabilität und Verlässlichkeit der Linie verbessern.
Eine heterogene Auslastung führt zu heterogenen Halte- und Fahrzeiten und somit zu heterogenen Fahrzeugabständen. Die Wartezeit ist bei gleichmäßiger Verteilung der Ankünfte einfacher vorherzusagen, besonders lange Wartezeiten werden eliminiert und eine Überfüllung der Fahrzeuge vermieden.8
Durch dynamische und variable Fahrzeugabstände kann eine Verspätung an die nachfolgenden Fahrzeuge weitergegeben und aufgeteilt werden. Das Entstehen von Fahrzeugpulks wird somit ebenfalls vermieden. Die Fahrzeugfolgezeiten werden dynamisch an die Wettersituation, den Besetzungsgrad der Fahrzeuge, die Zahl der wartenden Fahrgäste an den Haltestellen und den Abständen des vorherigen Umlaufs angepasst. Gleichzeitig wird auf Basis des gerade angekommenen Fahrzeugs die Ankunft der nächsten Fahrzeuge vorhergesagt und für diese eine optimaler Abstand prognostiziert. Dieses Vorgehen stabilisiert den Betrieb auf der gesamten Linie. Die Zufriedenheit der Fahrgäste steigt, da die Erwartung einer gleich verteilten Ankunft der Fahrzeuge weiterhin erfüllt werden kann.9 Die Komplexität der Verbindungsauskunft steigt jedoch insbesondere bei Umsteigeverbindungen an und muss in den Auskunftssystemen abgebildet werden. Um Reisezeitverlängerungen auszuschließen, sollten die Abstände einen bestimmten maximalen Schwellwert nicht überschreiten.
Sind die Fahrzeugabstände einmal kollabiert, ist es nur sehr schwer möglich, diese wieder herzustellen bzw. die Fahrzeugfolgezeiten wieder zu verlängern.
Eine Möglichkeit zur Entlastung der gesamten Linie ist der dynamische Einsatz von Bussen. Das Fahrzeug würde mit ausreichendem Abstand vor dem verspäteten Bus eingesetzt, die Lücke zwischen vorausfahrendem und verspäteten Bus verkürzt und die Fahrgastwechselzeiten für den verspäteten Bus gesenkt werden. Dies setzt jedoch voraus, dass flexibel mit Fahrzeugen und Personal reagiert werden kann. Das Vorhalten dieser Reserve ist jedoch sehr teuer und nur bei regelmäßiger Pulkbildung, welche durch Einsatz eines oder mehrerer zusätzlicher Fahrzeuge aufgelöst bzw. in ihren Folgen gemindert werden kann, sinnvoll. Im Allgemeinen löst der Einsatz weiterer Fahrzeuge das Problem nicht, sondern verlängert nur die Fahrzeugpulks.
Eine weitere Möglichkeit ist ein Einkürzen des Linienwegs, d. h. ein Absetzen der Fahrgäste an einem Unterwegshalt (unattraktiv) und Wechsel auf die Gegenrichtung. Dieses Verfahren sollte aber nur angewendet werden, wenn die Wartezeit in Gegenrichtung einen gewissen Schwellwert überschreitet.
Für Fahrgäste ähnlich unattraktiv ist die Umwandlung des verspäteten Busses in einen Expressbus mit Auslassen mehrerer Zwischenhaltestellen.10 und 11Dies muss den Fahrgästen zum einen entsprechend kommuniziert werden, für den einzelnen Fahrgast kann sich zudem der Weg zu seinem Ziel erhöhen. Gegebenenfalls können auch ein weiterer Umstieg und die Fahrt in Gegenrichtung notwendig werden. Ebenfalls wirkt eine Vorbeifahrt an den Unterwegshaltestellen bei den dort bereits länger wartenden Fahrgästen negativ. Hinzu kommt, dass dieses Vorgehen nur bei wenig Verkehr und freien Straßen Sinn macht, da der Effekt ansonsten verpufft.12
Eine weitere Möglichkeit liegt im Bereich der Kommunikation. Fahrgäste könnten bei vollen und verspäteten Bussen davon überzeugt werden, auf den folgenden weniger stark besetzten Bus zu warten.13 Die Fahrgastwechselzeit für den verspäteten und vollen Bus könnte somit reduziert werden. Hierfür müssen jedoch verlässliche Informationen bezüglich der Wartezeit auf das nächste Fahrzeug und dessen Besetzung weitergegeben werden. Bei einer möglichen Kurzführung des nachfolgenden Fahrzeugs sollte dieses mindestens bis zu einem Netzknoten mit entsprechendem Zielpotenzial geführt werden, um eine Entlastungswirkung erzielen zu können. Auch in diesem Fall muss die Kommunikation jedoch derart gestaltet sein, dass sie eindeutig und zugleich attraktiv ist.
Für das Vermeiden des Pulkeffektes und eine möglichst hohe Betriebsstabilität ist letztlich eine Kombination aus zwei zeitlichen Elementen notwendig:14
- Fahrzeuge müssen an jeder Haltestelle eine bestimmte Mindestaufenthaltszeit einhalten, auch wenn dort niemand wartet.
- Fahrzeuge müssen jede Haltestelle nach einer Maximalaufenthaltszeit verlassen, selbst wenn dort noch Fahrgäste einsteigen möchten.
Das Streben nach Betriebsstabilität ist erklärungsbedürftig und muss Fahrgästen kommuniziert werden. Das Halten und Warten an Haltestelle, obwohl dort niemand ein- und aussteigt, widerspricht dem Gefühl einer möglichst geringen Fahrzeit. Das Beenden des Einsteigevorgangs bspw. durch Schließen der Türen, obwohl weitere Fahrgäste zusteigen wollen, ist noch schwerer zu vermitteln und dürfte die wahrgenommene Qualität der ÖPNV-Nutzung reduzieren.
Bei einer allgemein hohen Qualität des öffentlichen Verkehrs und kurzen Fahrzeugfolgezeiten wird ein derartig striktes Vorgehen jedoch geduldet.
Das Beispiel Japan
Die viel gepriesene Pünktlichkeit in Japan hängt stark mit der Anwendung von Mindest- und Maximalaufenthaltszeiten ab. Die Abfertigung von Zügen erfolgt pünktlich und ohne Rücksichtnahme auf heraneilende Fahrgäste. Auch Fahrgäste, die pünktlich waren, werden zurückgelassen, wenn aufgrund des hohen Andrangs die geplante Fahrgastwechselzeit überschritten wird. Die Ankündigung eines kurzen Aufenthalts bedeutet genau dies: ein kurzer Aufenthalt. Durch klare Kommunikation werden keine falschen Erwartungen geschürt.
In Japan wird das Prinzip, dass ein Einzelner für den Nutzen des Kollektivs zurücktreten muss, konsequent umgesetzt. Mit anderen Worten: dem Einzelnen wird eine Verspätung zugemutet, wenn dafür Hunderte pünktlich an ihr Ziel kommen. Diese spezielle Form der gegenseitigen Rücksichtnahme, “gaman” genannt, findet sich nicht nur im öffentlichen Verkehr, sondern auch bei anderen Verkehrsarten.
Drei einfache Regeln für Fahrgäste
Verkehrsunternehmen können und sollten auch hierzulande dieses Prinzip erläutern und den Nutzen pünktlicher Abfahrten und gleichmäßiger Abstände zwischen den Fahrzeugen kommunizieren. Das Verhalten der Fahrgäste ist ein essenzieller Faktor, um das Entstehen von Pulkfahrten und Verspätungen zu vermeiden. Wenn sich jeder an bestimmte Regeln halten würde, würden der Einzelne wie auch das Kollektiv pünktlicher und komfortabler an ihr Ziel gelangen.
Die Regeln sind einfach:
- Wenn ein voller Bus oder eine volle Bahn nach längerer Wartezeit eine Haltestelle anfährt, kann es sein, dass weitere leere Fahrzeuge folgen. Es macht wenig Sinn, sich in das volle Fahrzeug hineinzwängen zu wollen. Dies erhöht die Verspätung weiter. Das Warten auf das nächste Fahrzeug, das einfachere Einsteigen, usw. kann sich in einer kürzeren Fahrzeit äußern.
- Aussteigende Fahrgäste benötigen Platz. Daher gilt: Aussteigen lassen! Das Hereindrängen erzeugt Chaos und weitere Verzögerungen.
- In stark besetzten Fahrzeugen sollte man sich möglichst weit von den Türbereichen entfernt platzieren. Dies gibt ein- und aussteigenden Personen ausreichend Fläche und verkürzt die Fahrgastwechselzeit.
Das Bewusstsein, dass die japanische Pünktlichkeit nicht nur in der Qualität der Verkehrsunternehmen und Infrastrukturbetreiber, sondern auch am rücksichtsvollen Verhalten der Fahrgäste, begründet liegt, zeigt die Notwendigkeit zur Kooperation aller Seiten zur Reduktion von Verspätungen. Jede Technik zur Optimierung und Vermeidung von Pulkfahrten dürfte ansonsten am Faktor Mensch scheitern. Man sollte dies vielleicht stärker ins Bewusstsein rufen.
- Aus Vereinfachungsgründen beziehen sich die folgenden Ausführungen auf den Bus, sie sind aber genauso auf schienengebundene Fahrzeuge anwendbar. ↩
- Newell, G. F. und Potts, R. B. (1964): Maintaining a bus schedule. In: Proceedings of the 2nd australian road research board (Vol. 2, S. 388–393). ↩
- C.F. Daganzo (2009): A headway-based approach to eliminate bus bunching: Systematic analysis and comparisons. Transportation Research Part B: Methodological, 43 (10) (2009), S. 913–921 ↩
- Y. Xuan, J. Argote, C.F. Daganzo (2011): Dynamic bus holding strategies for schedule reliability: Optimal linear control and performance analysis. Transportation Research Part B, 45 (2011), S. 1831–1845 ↩
- Daganzo, C. F. (2009): A cheap and resilient way to eliminate bus bunching. In: The 4th international conference on future urban transport. Gothenburg, Sweden. ↩
- C.F. Daganzo, J. Pilachowski (2011): Reducing bunching with bus-to-bus cooperation. Transportation Research Part B: Methodological, 45 (1) (2011), S. 267–277 ↩
- Sheng-Xue He (2015): An anti-bunching strategy to improve bus schedule and headway reliability by making use of the available accurate information. Computers & Industrial Engineering. Volume 85, Juli 2015, S. 17–32 ↩
- Bartholdi, J.J. (III). und Eisenstein, D.D. (2012): A self-coordinating bus route to resist bus bunching. Transportation Research Part B: Methodological, Vol. 46, (4), S. 481-491. http://doi.org/10.1016/j.trb.2011.11.001 ↩
- Berrebi, S.J., Watkins, K.E., und Laval, J.A. (2015): A real-time bus dispatching policy to minimize passenger wait on a high frequency route. Transportation Research Part B: Methodological. http://doi.org/10.1016/j.trb.2015.05.012 ↩
- C.E. Cortés, D. Saéz, F. Milla, A. Nuñez, M. Riquelme (2010): Hybrid predictive control for real-time optimization of public transport system’s operations based on evolutionary multi-objective optimization. Transportation Research Part C, 18 (5) (2010), S. 757–769 ↩
- L. Fu, Q. Liu, P. Calamai (2003): Real-time optimization model for dynamic scheduling of transit operations. Transportation Research Record, 1857 (2003), S. 48–55 ↩
- A. Sun, M. Hickman (2005): The real-time stop-skipping problem. Journal of Intelligent Transportation Systems, 9 (2) (2005), S. 91–109 ↩
- G.F. Newell (1974): Control of pairing of vehicles on a public transportation route, two vehicles, one control point. Transportation Science, 8 (3) (1974), S. 248–264 ↩
- Gershenson C, Pineda LA (2009) Why Does Public Transport Not Arrive on Time? The Pervasiveness of Equal Headway Instability. PLoS ONE 4(10): e7292. doi:10.1371/journal.pone.0007292 ↩
Es ist etwas bequem von Busbetrieben, das Problem v.a. auf “eine hohe Verkehrsstärke, Falschparker (zweite Reihe) und andere äußere Einflüsse” zu schieben: Diese mögen Verspätungen bzw. Verlängerungen der Fahrtzeit bewirken, das würde aber erst mal alle Busse einer Linie in etwa gleich stark betreffen und ist keine Begründung für eine Pulkbildung.
Mutmaßliche Fehlerursachen sehe ich eher im Management der Buslinien:
Wenn ein erster Bus zu früh (vor Fahrplan) verkehrt, weil weder Busfahrer noch Betrieb die EInhaltung überwachen, entsteht allein dadurch Mehrverkehr und eine Verzögerung für den nachfolgenden. Wenn der Bus nach dem verspäteten nicht auf Einhaltung des Fahrplans verpflichtet wird (sondern, weil leer, zu früh fährt), ist der übernächste gleich wieder überfüllt und bleibt zurück.
Unzureichende bzw. unflexible Steuerung spielt auch eine Rolle:
* Ist ein Bus verspätet, sollte dann auch der vorherige etwas “abgebremst” werden, um dem nachfolgenden zu “helfen”.
* Kommt es generell zu verkehrsbedingten Fahrtzeitverlängerungen, sollte entsprechend von dem “folgenden” (leereren) Bus nicht der Fahrplan stur eingehalten werden, was nur bei geringer Besetzung gelingt, sondern er sollte zusätzlich verlangsamt werden, um Abstand zum vorherigen Bus einzuhalten und mehr Leistung zu erbringen und den ihm nachfolgenden (soweit ebenfalls verspätungsanfällig) zu entlasten.
* Der verspätete Bus sollte auch mal Fahrgäste und vor allem Störfaktoren (u.a. Kinderwagen) abweisen; dazu bedarf es aber z.B. einer besonderen Sprechanlage an der hinteren Tür und ggf. rechtlichen Anforderungen (Diskriminierung PRM?).
* Bei Verspätung sollte auch mal auf den Fahrscheinverkauf durch den Fahrer verzichtet werden und könnten die Fahrgäste einfach “durchgewunken” werden bzw. der Einstieg an hinteren Türen gestattet werden (wo nicht ohnehin der Fall).
* Nur-Vorne-Einstieg führt vermutlich generell zu einer stärkeren Sensitivität gegenüber höheren Fahrgastzahlen und damit größerer Pulk-Bildung.
* Die Express-Bus-Methode find ich eigentlich recht sinnvoll. Man könnte prinzipiell auch den nachfolgenden Bus zum Express umdeklarieren, sofern dieser nicht verfrüht fährt, dann müssten eben die “eiligen Fahrgäste umsteigen und der verspätete Bus würde die Fahrplanlage des an sich späteren übernehmen; geht natürlich nur, wenn genügend viele Fahrgäste noch eine recht weitere Strecke vor sich haben, so dass die Verzögerng durch Umsteigen hereingeholt werdne kann, und wäre ja mit einem Ausfall der ersten Fahrplanlage verbunden, also auch nur Schadensbegrenzung statt -vermeidung.
* Sind wirklich Falschparker die Ursache, könnte vielleicht ein Reservepool mit Schadenersatzforderungen gegen die Falschparker finanziert werden. Das würde allerdings eine sorgfältige Nachweisführung erfordern; Ziel wäre aber ja vor allem die Abschreckung der meist notorischen Falschparker (Lieferdienste und dergleichen).
Bei halbwegs funktionierendem Pulk-Management würde es schwieriger, Fahrgäste zum freiwilligen Warten auf den nächsten Bus zu bewegen, weil der ja gerade nicht gleich nachfolgen würde.
Kinderwägen als Störfaktoren zu bezeichnen, mag in einer Fach-Diskussion über Fahrplanstabilität vielleicht erträglich sein, wenn an als Verkehrsunternehmen so kommuniziert kann es schon sein das Köpfe rollen.
Gerade wenn man mit Kinderwagen rücksichtsvoll unterwegs sein will, wäre mehr Kommunikation vonnöten. Ich habe z.B. in einer Woche, in der ich viel in Dresden unterwegs war, immer noch nicht verstanden nach welchem System die Kinderwagenbereiche in den Straßenbahnen verteilt sind – entsprechende war nerviges Rennen die Folge.
Bei Falschparkern als Ursache für Fahrplaninstabilität sollte man die Ursache und nicht die Symptome bekämpfen:
Parkraumbewirtschaftung ist wirklich keine Rocket Science und geht auch ohne Smart City. Wird aber leider immer wieder falsch gemacht (z.B. neu gestalteter Mühlenkamp in Hamburg, belebte Einkaufsstraße im Viertel mit vielen Busverbindungen: Teils 0€, teils 1€/h – durchgängig 1€, ggf. 2€/h, dazu Flächen für den Linenverkehr vorsehen dürfte die Zahl der Falschparker um 90-99% senken), lieber versenkt man Geld in unattraktiven ÖPNV und lässt sich die Einnahmen aus den Parkgebühren entgehen. Eine ausreichende Kontrolldichte für Parkzeitüberschreitungen ist in Deutschland kaum finanzierbar, da die Gebühren lächerlich niedrig sind (billiger als Schwarzfahren, obwohl schwereres Delikt), da könnte die Politik mal ansetzen anstatt den nächsten Rohrkrepierer der CSU (Kaufprämien für Dieselfahrzeuge) durchzudrücken.
Unmöglich! Auf den nächsten leeren Bus zu warten, wäre oftmals ein Spiel mit russischen Roulette. Bei meinem Glück kommt der nachfolgende Bus ebenfalls später (falls er nicht direkt hinter dem vollem her fährt). Bei Straßenbahnen, die unterirdische Stationen anfahren, kann die nachfolgende leere Bahn die Umsteigezeit noch einmal weiter minimieren, wenn sie andere Bahnen den Vortritt lassen muss. Ich gehe hier vom Essener Netz aus, wo im Innenstadt Zentrum Strecken zusammengeführt werden. Die Unsicherheit ist mir auf dem Weg zur Arbeit zu groß.
Hallo Martin
Danke für den Interessanten Artikel.
Du hast geschrieben:
“Durch dynamische und variable Fahrzeugabstände kann eine Verspätung an die nachfolgenden Fahrzeuge weitergegeben und aufgeteilt werden. ”
Wenn man den Effekt vermeiden will, dass ein verspätetes Fahrzeug immer langsamer wird, weil systematsch in jeder Haltestelle mehr Fahrgäste stehen, dann muss die Verspätung an das vorausfahrende Fahrzeug weiter gegeben werden. Steuern könnte man das nicht nur durch Information an den Fahrer sondern auch über intelligente Ampelsteuerungen zB indem die (leider immer noch nicht selbstverständliche) Vorangschaltung für den öffentichen Verkehr bei dem Fahrzeug, das “gebremst” werden soll deaktiviert wird.
Hallo Helmigo,
Auch eine Möglichkeit. Unterliegt aber natürlich auch einigen Restriktionen z.B. im Bereich der Umlaufplanung (Verspätung für die Rückleistung), der Länge des noch zu fahrenden Linienweges (für kurze Abschnitte wäre der Effekt nur gering) und der an Haltestellen zu erwartenden Fahrgastzahl (bei geringer Zuwachsrate der wartenden Personen dürfte der Effekt gering sein).
Theoretisch könnte man aber sicherlich auch voranfahrende Fahrzeuge verlangsamen, um die zu erwartende Fahrgastzahl des nachfolgenden verspäteten Fahrzeugs zu verringern.
Viele Grüße,
Martin
In Berlin kann man das Problem bei Bussen und Ringbahn beobachten. In der Spieltheorie würde man das Nash-Gleichgewicht heranziehen. Weil jeder schnell ankommen will, kommen alle später an. Auf die nächste Bahn/Bus zu warten würde eine 1min spätere Ankunft des einzelnen bedeuten. Jedoch verkürzt sich die Haltezeit für alle. S-Bahn-Fahrer weisen häufig kurz darauf hin, dennoch zwängen sich sogar manchmal noch Radfahrer oder Mütter mit Kinderwagen in die überfüllten Wagons /Busee sodass die Türen nicht geschlossen werden können. Bei Bahnen gibt es wenig Alternativen zur Aufklärung. Eigentlich ist kann auch das blockieren der Tür zu einem saftigen Bußgeld statt Busgeld werden. Die aufgelisteten Regeln sind ideal, aber nur wenn durchsetzbar oder zumindest als eine akzeptierten Fahrkultur wirkt.
In Korea wurden bei den Bahnsteigtüren am Boden markiert, wo man warten soll. Dadurch wird der Ausstieg nicht durch einsteigende Gäste blockiert. Diese “Korridorschaffung” muss kommuniziert werden, da auch hier die Menschen nicht effizient verteilt stehen, wenn sie befürchten nicht in die Bahn oder den Bus zu kommen, falls sie zu nicht nah genug an der Tür stehen.
Kurze und strikte Haltezeiten beobachtete ich auch in Moskau. Nach wenigen Sekunden quetscht einen die Tür ein, ob alle drin sind oder nicht. Dadurch sind hohe Taktierungen möglich. Bald aussteigende Passagiere fragen den Vordermann ob er/sie auch aussteigen wollen, sodass sich an der Tür bereits alle Passagiere sammeln, welche aussteigen wollen. Dadurch sind diese schnell draußen.
Bei Bussen können verlängere Haltestellen dazu führen, dass mehr in die leeren, zeitgleich haltenden Busse einsteigen bzw. wäre dann ein überholen möglich. Ein rauslassen vor Haltestellen ist vielleicht nicht möglich in Deutschland, wäre aber sinnvoll. So könnte der überfüllte Bus Passagiere rauslassen ohne die nächste Haltestelle anzufahren. Haltestellen könnten auch ausgelassen werden, wenn Passagiere aufgefordert werden in den nächsten Bus umzusteigen, wenn die betroffenen Haltestellen die Fahrziele sind. Dadurch können manchmal auch schnellere Routen gewählt werden um Verspätungen aufzuholen.
Es hängt eben viel an Kommunikation, einer Kultur und einem Selbstregulativ unter den Fahrgästen. Bei schienengebundenen Verkehren können Bahnsteigtüren mit der Anzeige von Countdowns vielleicht noch unterstützen. Bei zeitlich leicht versetztem Schließen könnte man sicherlich auch das Problem der Türblockade entschärfen. Dürfte auch die Zahl der Türstörungen senken. Der russische Weg mit massiv und rustikal schließenden Türen, die ja durchaus Respekt einflößen, wird man hierzulande kaum gehen.
Ich finde die lokalen Unterschiede auch interessant. In München blockiert fast niemand die Tür, in Dortmund ist das an manchen Haltestellen nahezu Standard. Das Problem ist bereits derart massiv, dass man eine eigene Kampagne gestartet hat und sogar hin und wieder mit Personal dagegen vorgeht: http://www.wr.de/staedte/dortmund/dsw21-geht-gegen-tuerblockierer-in-stadtbahnen-vor-id11782965.html Dank uneinheitlicher Fahrzeuglängen und anderen Gründen kann man dort leider nicht auf Bahnsteigtüren setzen, auch wenn das sicherlich an manchen Stationen sinnvoll wäre.
Spezielle Aussteigebereiche bei größeren Haltestellen sind sicherlich eine charmante Idee. Ich kann mir aber vorstellen, dass es in Deutschland schnell zu Wanderbewegungen kommt. Müsste man vermutlich baulich voneinander trennen. Und man braucht natürlich eine gewisse Länge des Haltestellenbereichs.
Danke für den Artikel zu einem wichtigen Thema.
Auf 3 Aspekte wird aber nicht eingegangen, die ich hiermit ergänzen möchte:
1. Pulkbildung ist auch von der Fahrzeuggefäßgröße abhängig. Kleinere Fahrzeuge sind anfälliger für Pulkbildung, da der verfügbare Platz stärker beschränkt ist und bei hoher Auslastung keine Flexibilität bezüglich Fahrgastschwankungen besteht. Bei unerwarteten größeren Fahrgastgruppen an einer Haltestelle dauert der Fahrgastwechsel länger, wenn alle Fahrgäste versuchen, in das relativ volle Fahrzeug zu gelangen. Wenn es hingegen eine gewisse Kapazitätsreserve gibt, entfällt dieses Problem und die Pulkbildung wird vermieden. Dieser Grund spricht auch bei stark beanspruchten Linien für die Umstellung von Normalbussen auf Gelenkbusse bzw. von Gelenkbussen auf Straßenbahnen. Selbst wenn dadurch das Intervall etwas gedehnt wird, steigt durch die insgesamt höhere Kapazität, die pro Platz günstiger zu produzieren ist, die Stabilität und Verlässlichkeit wegen des Wegfalls der Pulkbildung.
2. Die dynamischen Intervalle sind nur bei Betrachtung einer einzelnen Linie ein Vorteil, nicht aber im Gesamtsystem. Fahrplanauskünfte sind nicht mehr möglich, wenn flexibel gefahren wird, was Routenplanungen mit Umsteigevorgängen erschwert. Bei Intervallen zwischen 5 und 10 Minuten spielt das durchaus eine Rolle für das (Nicht-)Erreichen von Umsteigeanschlüssen, der Schwellenwert für so eine Vorgangsweise sollte daher auf maximal 5 Minuten herabgesetzt werden.
3. Die Anregung an die Fahrgäste, auf das zweite oder dritte Fahrzeug zu warten, ist in der Theorie sinnvoll, praktisch kommt es in vielen Betrieben aber vor, dass jene hinteren Fahrzeuge während der Fahrt eine Kurzführung aufgetragen bekommen, sodass es nachvollziehbar ist, wenn Fahrgäste so eine Situation, welche die Fahrt erheblich verlängert, vermeiden wollen. Da Kurzführungen fast immer erst im Laufe der Fahrt beschlossen werden, da die Pulkbildung meistens erst im Laufe der Fahrt entsteht, ist dieses Problem kaum vermeidbar, sodass eher fahrzeugseitig auf die Vermeidung von Pulkbildung gesetzt werden sollte (siehe Pkt 1).
Hallo und Danke für den Kommentar mit den drei wirklich guten Anmerkungen. Ich habe den Artikel an den jeweiligen Stellen entsprechend ergänzt. Ich möchte aber auch noch einmal auf die drei Punkte eingehen:
1.) Das Thema Gefäßgrößen ist komplett an mir vorbeigegangen, da ich stark nachgefragten Linien hauptsächlich mit reinen Gelenkbus-Umläufen kenne. Nachdem ich kurz darüber nachgedacht habe, sind mir aber noch einige Städte wie Hamburg eingefallen, auf denen man durchaus Solobusse auf Metrobuslinien findet.
In Dresden geht man auf einem anderen Niveau auch den Weg längerer und mit mehr Türspuren versehenen Fahrzeuge bei den Linien 61 und 62, die mitunter im 4-Minuten-Takt verkehren. Dort setzt man mittlerweile auf den 20,995 m langen Mercedes-Benz CapaCity L mit vier Türspuren und den 18,75 Meter langen MAN Lion’s City GL mit fünf Türspuren. Und natürlich auf einen baldigen Ersatz eines Teilbereichs der Linie 61 mit Stadtbahn.
2.) Das ist ja ein übliches Problem bei entsprechenden Optimierungen und Modellierungen, dass sich Netze mit ihrer Komplexität nur sehr schwer modellieren lassen. Im erwähnten Paper [http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0191261515001149] hat man dies auch nicht mitbedacht, weil man von einem gleichmäßigen Fahrgaststrom an Haltestellen ausging. Das ignoriert natürlich die Knoten im Netz, an denen in kurzer Zeit um einen bestimmten Zeitpunkt (Ankunft des anderen Verkehrsmittels / Fahrzeugs) Nachfragespitzen entstehen.
Es wäre aber auf der anderen Seite auch relativ spannend, ob man den Zubringer durch entsprechende Anweisungen so beschleunigen bzw. in den meisten Fällen verlangsamen könnte, dass Pulkfahrten aufgelöst werden können. Sprich: Man steuert die Ankunft so, dass mit Umsteigezeit Fahrzeug 1 bereits abgefertigt bzw. abgefahren ist und das nachfolgende Fahrzeug 2 die umsteigenden Fahrgäste aufnimmt. Bei entsprechend dichtem Takt müsste dies durchaus möglich sein.
3.) Ich kenne das Phänomen der Pulkbildung aus der Praxis vor allem bei Linien, die mit Einsatzfahrten von einem 10-Minuten-Grundtakt auf einen 4-Minuten-Takt verdichtet werden. Die zusätzlichen Fahrten verkehren abschnittsweise von Netzknoten zu Netzknoten und können somit Nachfrage auf sich ziehen. Das lässt sich den Fahrgästen auch kommunizieren. Bei Kurzführungen wäre es daher sicherlich zu empfehlen, diese erst an Netzknoten enden zu lassen, um den Entlastungseffekt mitnehmen zu können. Dafür muss der Knoten natürlich auch entsprechend ausgeführt sein. Beim Wechsel der Gefäßgrößen stößt man ja auch irgendwann auch an Grenzen. Spätestens dann, wenn Gelenkbusse mit vier oder mehr Türspuren nicht ausreichen und der Bau einer Stadtbahn mehrere Jahre dauert.