Es kommt öfter mal vor, dass Diskussionen über Einzelmaßnahmen in einer Grundsatzdebatte über Push & Pull, dem Verhältnis zwischen angebotsorientierten Verbesserungen und Einschränkungen für den Kfz-Verkehr münden. In vielen verkehrswissenschaftlichen Analysen erzielt ein Maßnahmenverbund aus Push-Maßnahmen wie flächendeckender Parkraumbewirtschaftung, Geschwindigkeitsbegrenzungen, etc. und Pull-Maßnahmen wie der Förderung des ÖPNV sowie des Fuß- und Radverkehrs, Mobilitätsmanagement, etc. die größte Wirkung bei der Minderung der negativen externen Effekte des Verkehrs wie bspw. Lärm- und Luftschadstoffbelastung und der Erreichung einer politisch gewollten Verkehrsverlagerung auf umweltschonendere Verkehrsarten. In städtischen Räumen gibt es zudem einen ganz praktischen Grund: die Knappheit von Fläche.
Auf kommunaler Ebene existieren neben der Sicherung von Erreichbarkeit eine Vielzahl weiterer Ziele für den Verkehrsbereich: die Steigerung der Verkehrssicherheit, die Sicherstellung gesunder Lebensverhältnisse, die Verringerung der Luftschadstoff- und Lärmbelastung, soziale Gerechtigkeit, Herstellung hochwertiger öffentlicher Räume und eines attraktiven Wohnumfelds, Verringerung von Stauzeitverlusten und der damit verbundenen monetären Schäden, Verringerung der Flächenversiegelung mit entsprechender Starkregenvorsorge, Erhalt der nahräumlichen Versorgungsstrukturen, u.v.m.
Für die Erreichung dieser Ziele gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen, die sich zum Großteil in die drei Kategorien Vermeiden, Verlagern und Verbessern einordnen lassen (eine exemplarische Übersicht mit verschiedenen Maßnahmen finden Sie hier). Während die Vermeidung dem nur über lange Frist zu erreichendem Leitbild der „Stadt und Region der kurzen Wege“ folgt und die Verbesserung mit einer effizienteren Gestaltung und Folgenminimierung der einzelnen Verkehrsarten nur bedingt in der kommunalen Einflusssphäre liegt, bestehen kommunale Handlungsoptionen insbesondere im Bereich der Verkehrsverlagerung.
Maßnahmen für eine wirkungsvolle Verlagerung von motorisiertem Individualverkehr (MIV) hin zum ÖPNV sowie den nicht-motorisierten Verkehrsarten gehen häufig mit einer Diskussion um Einschränkungen für den MIV und einer Umverteilung des Verkehrsraumes einher. Als Alternative wird häufig auf eine reine Angebotsverbesserung (pull-Maßnahmen) ohne die Anwendung restriktiver Lenkungsinstrumente oder die Umverteilung von Verkehrsfläche verwiesen. Folgende Maßnahmen werden hierbei meistens vorgeschlagen:
- Fahrpreisanpassungen und Veränderung der Ticketstruktur (“Tarifinnovationen”) im ÖPNV,
- Taktverdichtung (bei entsprechender Streckenkapazität) im ÖPNV,
- Verlängerung der Betriebszeiten, Einführung bzw. Verbesserung von (flexiblen) Früh-, Abend- und Nachtangeboten im ÖPNV,
- Aufbau bzw. Ausbau von Verkehrsmanagementsystemen unter Einbeziehung einzelner oder aller Verkehrsarten,
- Ausbau von P&R-Kapazitäten,
- Anlage von Schutzstreifen, die jedoch nur bedingt eine sichere und attraktive Radverkehrsanlage (wenn man sie so überhaupt bezeichnen mag) darstellen,
- Verbesserung der Wegweisung, Aufbau kleiner Servicestationen, Ladeinfrastruktur für Elektroautos und E-Bikes, etc.
- Marketingmaßnahmen
Wenngleich diese Maßnahmen in ihrer Einzelbetrachtung sicherlich sinnvoll sind, stellt sich die Frage, wie groß die Verlagerungseffekte in Summe sein werden: durch eine Kapazitätserhöhung im Umweltverbund bei gleichzeitig konstanter Kapazität des Kfz-Verkehrs steigt die Gesamtkapazität des Gesamtverkehrssystems. Zwar ergibt sich eine rechnerische (wegebezogene) Verlagerung, jedoch liegt diese auf einem höheren Gesamtniveau sodass das angestrebte Ziel faktisch nicht erreicht wird.
Ernsthafte Bestrebungen für eine Verlagerung von Pkw-Verkehr auf den öffentlichen und aktiven Verkehr folgen zwei Leitprinzipien:
- sichere, durchgängige Netze für den Fuß- und Radverkehr mit geringen Umwegfaktoren und hochwertigen Abstellanlagen
- flächendeckender öffentlicher Verkehr mit einer Tür-zu-Tür-Reisezeit ähnlich zum MIV (Reaktion auf das Downs–Thomson Paradox), optimierten Umstiegen, Fahrplantreue sowie einer einfachen und transparenten Tarifstruktur.
Beide Zielzustände sind gerade in städtischen Bereichen mit Nutzungskonkurrenz um den vorhandenen Raum verbunden. Dieser wird in Mehrheit vom flächenintensiven MIV (insbesondere dem ruhenden Verkehr) in Anspruch genommen. Die heutige Raumaufteilung ist Ergebnis des Leitbilds der autogerechten Stadt, die eine Dominanz des motorisierten Verkehrs erzielen wollte und auch erzielt hat. Auch wenn dieses Leitbild heutzutage nicht mehr aktiv verfolgt wird, werden die angelegten autogerechten Strukturen bewahrt und auch weiterhin ausgebaut (bspw wird. auf eine MIV-Erschließung einzelner Grundstücke in einem Neubauquartier zugunsten von Sammelgaragen nur selten verzichtet).
Eine hohe Fahrplanstabilität und kurze Reisezeiten können im ÖPNV insbesondere durch Stadt- und Straßenbahnen auf eigenem Gleiskörper, Busfahrstreifen und Priorisierungsmaßnahmen (Busvorrangschaltung, u.ä.) erzielt werden. Durch die Ausführung mit Rasengleis können Straßenbahntrassen städtebaulich verträglicher ausgeführt werden. Die Einrichtung ist häufig mit einer Flächenneuaufteilung verbunden.
Ähnliches gilt für den Radverkehr: Hauptrouten, die den Radverkehr bündeln und über größere Distanzen in und durch die Stadt leiten sollen, müssen aufgrund des erwarteten Radverkehrsaufkommens in entsprechender Breite ausgeführt werden, sichere Überholvorgänge zulassen und eine möglichst hohe Direktheit ohne Umwege aufweisen. Dies gilt auch bei Abbiegevorgängen in Kreuzungsbereichen. Da ein Hauptradroutennetz vom Charakter und der Netzhierarchie eine Stellung analog zum Hauptstraßennetz hat, welches Stadtstrukturen über mehrere Jahrzehnte beeinflusst hat, bietet sich eine ähnliche Struktur an. Dies bedeutet, dass bei entsprechenden Kapazitäten und Sicherstellung der Bündelungswirkung Kfz-Fahrstreifen umverteilt werden müssten. Sollte dies nicht möglich sein, sind ausgewiesene Parkständen im Hauptstraßennetz in das Nebenstraßennetz zu verlagern. Für das Abstellen von Fahrrädern gilt: Abstellanlagen dürfen nicht zu Lasten des ebenfalls förderungswürdigen Fußverkehrs eingerichtet werden. Flächen sind vielmehr bei der Verkehrsart bzw. Funktion zu gewinnen, der aktuell am meisten Raum eingeräumt wird: dem Abstellen von Kfz.
Die sichere Führung des Fußverkehrs erfordert neben entsprechenden Gehwegbreiten auch Möglichkeiten zum sicheren Queren. Die sichere Querung ist dann gegeben, wenn Geschwindigkeiten gering, ggf. Querungshilfen installiert (siehe Grafik), Anlagen fehlerverzeihend ausgeführt sind und Hindernisse sowie Sichteinschränkungen schnell entfernt werden.
Fazit
Ernsthafte Bemühungen für eine Verkehrsverlagerung auf kommunaler Ebene gehen nahezu immer mit Einschränkungen des Kfz-Verkehrs einher. Viele Maßnahmen zur Angebotsverbesserung (pull-Maßnahmen) haben aufgrund der mit ihr verbundenen Notwendigkeit der Flächenneuverteilung quasi automatisch eine Push-Komponente zur Folge.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden nahezu flächendeckend Flächen vom ÖPNV, Fußverkehr und Radverkehr zugunsten des Kfz-Verkehrs umverteilt, um die “Leichtigkeit des Kfz-Verkehrs” sicherzustellen. Die durch die massive Förderung des Automobils entstandenen negativen externen Effekte und die übergeordneten gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen haben über die vergangenen Jahrzehnte die verkehrs- und umweltpolitischen Zielsetzungen verändert, die mit Maßnahmen unterlegt werden. Für das Erreichen der Ziele ist die Lösung der Nutzungskonkurrenz um den vorhandenen Raum entscheidend. So ist beispielsweise eine Attraktivitätssteigerung des ÖPNV nur mit “Tarifinnovationen” nicht zu erreichen, hierfür braucht es auch Angebotsausweitungen und Infrastrukturverbesserungen.
Leider ist eine Neuverteilung von Verkehrsfläche, entsprechend der eigentlich gesteckten Ziele, politisch wenig attraktiv, da sie aufgrund der Endlichkeit von Fläche zwingend mit einer Umverteilung und damit Einschränkungen für manche einhergeht. Die Ergebnisse dieses politischen Zauderns sind Maßnahmen, die eher kosmetischer Natur sind statt einen transformativen Charakter aufzuweisen. Da sie nicht oder nur begrenzt geeignet sind, werden selbstgesteckte Ziele nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung erreicht. Häufig sind auch Pilotprojekte, begleitende Forschungsvorhaben oder eine besondere Fördersituation notwendig, um im kommunalen Politikbetrieb die notwendigen Impulse für politisches Handeln zu setzen.
Ohne eine intensivere Debatte über die Flächenverteilung in Städten, die Notwendigkeit einer anderen Flächenaufteilung und einen ehrlicheren Umgang mit der Wirkung und den Grenzen von Maßnahmen dürfte eine Verkehrswende in vielen Städten länger auf sich warten lassen.
Natürlich kann ein so kurzer Artikel zu diesen umfangreichen Themenkomplex nicht vollständig abdecken. Trotzdem ist darin nach meiner Erfahrung mit der *Verlässlichkeit* ein wichtiger Aspekt bei der Verkehrsmittelwahl nicht berücksichtigt. Beim MIV wird Verspätungen und Ausfall als Fremdverschulden harsch beurteilt, während bei MIV oder Radfahren Stau oder defekt als Eigenverschulden noch relativ gnädig hingenommen wird.
Auch unverständliche Fahr- und Netzpläne sind eine schwere Hürde, besonders seit für die individuelle Fortbewegung eine Navigationssoftware auf dem Smartphone praktisch in jeder Hosentasche bereitliegt.
Und neben den Raum, den der MIV bei Fahrbahn und Parken anderem Verkehr freigeben muss, fehlt noch der Abbau von Privilegien an Kreuzungen. Denn dort muss der ÖPNV selbst bei eigener Trasse meist warten und dem Rad- und Fußverkehr werden teils 3 oder gar 4 Ampelphasen zugemutet (bei Linksabbiegen bis zu 6 Phasen!), der Kraftverkehr aber wird grundsätzlich rasch mit 1 Phase übergeleitet.
Verfügbarkeit, Verlässlichkeit, Schnelligkeit sind die 3 KO-Kriterien Im Verkehr. Das private Auto können ÖPNV, Fahrrad und Laufen nur schlagen, wenn die Infrastruktur stimmt.
Dazu noch meine persönliche Erfahrung zu Tür-zu-Tür-Zeiten: Als ich vor ca. 30 Jahren nach Karlsruhe zog hatten dort Tram und Busse an allen beampelten Kreuzungen Vorrangschaltungen – der ÖPNV rauschte durch und die KFZ wurden gebremst. Lokale Politik und Verkehrsplanung hat das inzwischen bei jeder kleinen Gelegenheit im Verkehrswegebau und -pflege erodiert. Trotz Verbesserung der Technik an Zug, Haltestellen und Trassen wurde so die eigentlich mögliche Beschleunigung zunichte gemacht. Heute sind die Fahrtzeiten länger als vor 30 Jahren. Die Busvorrangschaltungen z.B. sind abgeschafft, weil die Technik im Fahrzeug seit vielen Jahren nicht mehr existiert und bei dessen Ausfall absichtlich kein Budget für Ersatz geschaffen wurde.
Kleine Korrektur: das erste “MIV” hätte natürlich “ÖPNV” heißen müssen.
Ich stimme dir zu, dass bei der Umverteilung des städtischen Raums noch mehr möglich ist, insbesondere beim ruhenden Verkehr sehe ich großes Potenzial. Eine intensivere Debatte in der Stadtgesellschaft kann sicherlich die Akzeptanz der Autofahrer für eine Verkehrswende erhöhen, umgekehrt aber auch ein Bewusstsein für MIV-Captives schaffen. Für diese Kreise sollte doch mehr über Verkehrsvermeidung nachgedacht werden – neben einer Stadt der kurzen Wege könnten das auch mit den Arbeitgebern der Stadt ausgehandelte Home-Office-Lösungen sein. Bei der Verkehrsverbesserung sehe ich durchaus Möglichkeiten in der kommunalen Einflusssphäre – ein besseres Angebot im ÖPNV fällt größtenteils unter diese Kategorie. Wenn man unter Beibehaltung einer grundlegenden MIV-Infrastruktur zugleich ÖPNV, Radverkehr und Fußverkehr möglichst viel Raum geben will, ist aber nicht auszuschließen, dass auch innerhalb des Umweltverbunds Konflikte auftreten. Von daher ist es manchmal sinnvoller, dass sich die Trassen aus dem Weg gehen – eine U-Bahn oder S-Bahn behindert zwar nicht den MIV, ist aber schneller als eine Tram. Zum allgemeinen politischen Willen gehört immer eine Abwägung verschiedener Interessen und am Ende eine zumindest mehrheitlich tragfähige Situation. Wenn es keine Win-Win-Situation ist, sollte es gut begründet sein.