Eins vorweg: Natürlich hätte man sich eine Menge Arbeit ersparen, sich mit einem Atlas oder eine Karte hinsetzen und kurz nachdenken können. Die Ergebnisse dieser Studie mögen für viele logisch und vielleicht auch trivial erscheinen, dennoch sollte man den Erkenntnisgewinn dieser Studie der TU Dresden nicht unterschätzen.
Christos Evangelinos, Claudia Hesse und Ronny Püschel, Mitarbeiter an der Professur für Verkehrswirtschaft und internationale Verkehrspolitik, Institut für Wirtschaft und Verkehr, haben 80 deutsche Großstädte ab einer Größe von 100.000 Einwohnern und einem BIP von 2 Milliarden Euro dahin gehend untersucht, wie gut sie mit dem Schienenpersonenverkehr, sprich der Bahn, zu erreichen sind 1.
Zudem wurden bei der täglichen Erreichbarkeit alle 412 kreisfreien Städte und Kreisstädte Deutschlands berücksichtigt, solange die Reisezeit das vorgegebene Budget von vier Stunden zu dem jeweiligen Zentrum nicht überschreitet. Ein Anschluss an das ICE-Netz wurde entsprechend höher bewertet als ein reiner Anschluss an das IC- bzw. EC-Netz.
Für die Berechnung wurden drei Partialindikatoren entwickelt, die zu einem Gesamtindex zusammengefasst wurden.
Die einzelnen Indikatoren sind in ihrer Bedeutung leicht nachzuvollziehen, bilden sie doch logische Zusammenhänge leicht ab, die in wissenschaftlicher Form natürlich komplexer wirken. Wer sich für die wissenschaftlichen Berechnungsweisen interessiert, kann gerne die einzelnen Partialindikatoren ab Seite 21 nachlesen.
Das Wirtschaftspotenzial wird stark vereinfacht folgendermaßen berechnet: Die ökonomische Attraktivität (BIP, Anzahl der Einwohner) fließt positiv auf die Habenseite ein. Von dieser wird der Raumwiderstand abgezogen, also Zeit oder Distanzen von einem Ort zum anderen. Das einfache Ergebnis lautet, das nah gelegene Städte einen höheren Nutzen generieren als weiter entfernte.
Die relative Netzwerkeffizienz vergleicht einfach ausgedrückt, die Luftliniendistanz mit der real zurückgelegten Distanz, welche die Bahnverbindung vorgibt. Umwege werden folglich bestraft, eine möglichst direkte Bahnverbindung belohnt. Die Luftliniendistanz wird mit 300 km/h “zurückgelegt”. Der Wert der relativen Netzwerkeffizienz wird anhand der Reisezeiten im Schienenverkehr und dem jeweiligen Bruttoinlandsprodukt der Großstädte berechnet.
Der dritte Partialindikator bildet die tägliche Erreichbarkeit ab. Dieser Kumulationsindikator betrachtet, wie viele Personen oder ökonomisches Potenzial (ausgedrückt in BIP) innerhalb eines Tages von einer Stadt aus erreichbar sind. Folgende Idee wird zugrunde gelegt: Ein Geschäftsreisender soll eine Geschäftsreise innerhalb eines Tages mit Aufenthalt im Zielort und Rückreise durchführen können. Um dies zu erreichen, wurde eine maximale Fahrzeit von vier Stunden je Richtung festgelegt. Städte, die man nicht innerhalb von vier Stunden mit der Bahn erreichen kann, gelten als unerreichbar.
Am Ende ergibt sich die folgende Formel mit den gewichteten Faktoren NET relative Netzwerkeffizienz, DAI tägliche Erreichbarkeit, POT Wirtschaftspotenzial:
PCAi = –0,384NETi + 0,494DAIi + 0,468POTi
Setzt man nun die Werte der einzelnen Partialindikatoren in die obige Formel ein, ergeben sich folgende Indexwerte und das folgende Ranking:
Rang | Stadt | PCA-Index |
---|---|---|
1 | Frankfurt | 1 |
2 | Düsseldorf | 0,9331 |
3 | Hannover | 0,8472 |
4 | Köln | 0,8464 |
5 | Duisburg | 0,8449 |
6 | Mannheim | 0,8268 |
7 | Essen | 0,8203 |
8 | Ludwigshafen | 0,7747 |
9 | Hamburg | 0,75 |
10 | Stuttgart | 0,742 |
11 | Berlin | 0,742 |
12 | Mülheim | 0,7047 |
13 | Oberhausen | 0,7046 |
14 | Bochum | 0,7005 |
15 | München | 0,6949 |
16 | Würzburg | 0,6773 |
17 | Dortmund | 0,6765 |
18 | Kassel | 0,6587 |
19 | Göttingen | 0,649 |
20 | Offenbach | 0,6438 |
21 | Wuppertal | 0,636 |
22 | Mainz | 0,6235 |
23 | Leverkusen | 0,6215 |
24 | Nürnberg | 0,6182 |
25 | Braunschweig | 0,6152 |
26 | Darmstadt | 0,6142 |
27 | Solingen | 0,6141 |
28 | Karlsruhe | 0,6051 |
29 | Gelsenkirchen | 0,6027 |
30 | Hildesheim | 0,5835 |
31 | Hagen | 0,5809 |
32 | Heidelberg | 0,5733 |
33 | Wolfsburg | 0,571 |
34 | Bremen | 0,5611 |
35 | Hamm | 0,556 |
36 | Bonn | 0,547 |
37 | Münster | 0,5359 |
38 | Krefeld | 0,5346 |
39 | Wiesbaden | 0,5255 |
40 | Osnabrück | 0,5097 |
41 | Herne | 0,4979 |
42 | Bielefeld | 0,4907 |
43 | Mönchengladbach | 0,4701 |
44 | Neuss | 0,4645 |
45 | Bottrop | 0,458 |
46 | Fürth | 0,4353 |
47 | Augsburg | 0,4207 |
48 | Recklinghausen | 0,413 |
49 | Pforzheim | 0,4068 |
50 | Bergisch Gladbach | 0,4035 |
51 | Ulm | 0,3867 |
52 | Aachen | 0,3647 |
53 | Magdeburg | 0,3642 |
54 | Moers | 0,3294 |
55 | Salzgitter | 0,3263 |
56 | Heilbronn | 0,3239 |
57 | Ingolstadt | 0,3203 |
58 | Leipzig | 0,3159 |
59 | Koblenz | 0,3124 |
60 | Potsdam | 0,3099 |
61 | Erlangen | 0,3018 |
62 | Freiburg | 0,2961 |
63 | Erfurt | 0,2956 |
64 | Paderborn | 0,2929 |
65 | Reutlingen | 0,2905 |
66 | Lübeck | 0,2856 |
67 | Halle | 0,256 |
68 | Regensburg | 0,2485 |
69 | Oldenburg | 0,2341 |
70 | Kiel | 0,224 |
71 | Bremerhaven | 0,1736 |
72 | Saarbrücken | 0,1502 |
73 | Remscheid | 0,1461 |
74 | Jena | 0,1183 |
75 | Dresden | 0,1043 |
76 | Rostock | 0,1001 |
77 | Siegen | 0,0941 |
78 | Chemnitz | 0,0318 |
79 | Cottbus | 0,0178 |
80 | Trier | 0 |
Das gesamte Ranking können Sie nochmals diesem PDF entnehmen.
Es lässt sich relativ leicht schlussfolgern, dass die Randgebiete Deutschlands schlechter erschlossen sind als die “Mitte Deutschland”-Verbindungen. Insbesondere Hannover und andere Städte an der Schnellfahrstrecke Hamburg – Frankfurt – München profitieren von der schnellen und guten Verbindung. Platz 1 belegt Frankfurt, das zum einen geografisch gut liegt und zum anderen sehr kurze Fahrzeiten Richtung Ruhrgebiet, Bayern und Baden-Württemberg aufweist.
Städte des Ruhrgebiets sind ebenfalls gut im Ranking vertreten. Allerdings ist hier zu erkennen, dass eine Anbindung an das Hochgeschwindigkeitsnetz von essenzieller Bedeutung für die jeweilige Stadt ist. Städte wie Remscheid und Bergisch Gladbach, die nicht an das ICE-Netz angebunden sind, erreichen trotz ihrer geografischen Lage nur unterdurchschnittliche Indexwerte.
Eklatant ist natürlich das West-Ost-Gefälle. Nach Berlin auf Platz 11 findet sich erst mit Magdeburg auf Platz 53 (!) als nächste größere ostdeutsche Stadt im Ranking wieder. In Sachsen schafft nur Leipzig den Sprung unter die sechzig Besten, Dresden findet sich auf Platz 75, Chemnitz sogar erst auf Platz 78 wieder. Und Dresden besitzt sogar sowohl ICE- und EC / IC-Anschluss wohingegen Chemnitz vollkommen vom deutschen Fernverkehrsnetz abgekoppelt ist. Dieser Wert dürfte sich allerdings verbessern, wenn das gesamteuropäische Eisenbahnnetz betrachtet wird. Grenznahe Städte wie Aachen (Richtung Brüssel / Paris), Freiburg (Schweiz) und Dresden (Prag) werden in diesem Ranking eindeutig unterbewertet.
Städte, die keinen Anschluss an das deutsche ICE-Netz besitzen, sind im Allgemeinen schlechtergestellt als andere Städte mit Anschluss an den Hochgeschwindigkeitsverkehr (Beispiel: Siegen, das zwar zentral in Deutschland liegt aber keinen ICE-Anschluss besitzt). Durch eine Verbesserung des Fernverkehrs der Deutschen Bahn lassen sich strukturelle und wirtschaftliche Verbesserungen erreichen.
Aktualisierung – 10.05.2014
Den falschen Begriff “Stundenkilometer” gegen die korrekte physikalische Einheit [km/h] ausgetauscht.
- Die Erreichbarkeit deutscher Großstädte durch den Schienenpersonenverkehr – Christos Evangelinos, Claudia Hesse und Ronny Püschel – http://www.cesifo-group.de/portal/pls/portal/docs/1/1210251.PDF ↩
hmm, bei magdeburg und leipzig haben sie wohl nen fehler gemacht. anders ist es nicht erklärbar, dass die ICE-stadt L schlechter da steht als das abgekoppelte MD. vermutlich nahmen sie den einzelnen traurigen reste-ICE, der von wolfsburg nach potsdam über MD einmal am tag wie in sibirien langfährt und danach behaupten alle: “wir sind am ICE-netz!” ja, wer’s glaubt!
wen ein ICE am tag mehr zählt als 12 IC-verbindungen, dann wissen die wissenschaftler in DD mehr als alle anderen.
jedenfalls scheint dort das wirtschaftliche übergewicht des westens in kombination mit einem pseude-ICE-anschluss dafür zu sorgen, dass sich die reihenfolge komplett änderte ins absurde. auch von der duisburger bahnhof ist nicht gerade ein HUB im deutschen fernverkehr, berlin jedoch schon… aber naja, ossis wie ich zählen ja nur halb, weil wer halb so arm ist, ist der studie scheinbar auch nur halb so viel punkte wert.
das die dresdner hier so ein wirtschaftskram mit verkehrswesen vermischen, erinnert an neoliberale zeiten, die überwunden geglaubt.
das haben sie sich vielleicht von der überteuerten bahn abgeschaut, die den osten bis auf berlin fast vom netz genommen hat.
@ admin: cooler block, gerade entdeckt, danke dafür!
Hallo,
man muss sich das ganz differenziert ansehen. Aber es ist eigentlich recht einleuchtend, dass Magdeburg besser rankt als Leipzig. Das hat auch nichts mit neoliberalen Gedankengut aus Dresden zu tun.
Und natürlich ist Magdeburg zum Untersuchungszeitraum noch an das ICE-Netz angeschlossen gewesen und ist es zurzeit ja auch noch. Die Frequenz ist erst einmal zweitrangig. Was in Magdeburg zudem recht interessant ist, dass Geschwindigkeitstechnisch zwischen IC und ICE kein Unterschied besteht. Zurzeit bezahlt man für die letztendliche Beförderung sogar den ICE-Mehrpreis, ohne einen größeren Nutzen daraus ziehen zu können. Der Komfort mag in Abhängigkeit des Rollmaterials durchaus größer sein, allerdings dürfte sich das durch das aktuelle IC-Redesign auch bald ändern.
In der Untersuchung wurden vor allem die Netzwerkeffekte betrachtet. Leipzig liegt noch nicht so verkehrsgünstig, wie man es gerne hätte. Zwar gibt es Direktverbindungen nach München und Berlin, aber vor allem die Verbindung in Richtung Süden wie auch Westen quälen sich sehr lange durch die sächsische bzw. thüringische Pampa. Das kann jeder bestätigen, der mit dem ICE / IC in Richtung Frankfurt fährt. Von Magdeburg ist man relativ schnell in Braunschweig und vor allem Hannover, die sehr hohe Netzwerkwerte haben. Dies strahlt auch auf Magdeburg ab, das mit nur einem Umsteigevorgang trotzdem sehr viele Ziele erreicht.
Und Duisburg bindet extrem schnell andere Städte mit hohem BIP an die Stadt an, Beispiel Köln, Düsseldorf und andere Ruhrgebietsstädte. Natürlich dauert es auch eine gewisse Zeit von Duisburg nach Passau, Stuttgart oder Dresden zu kommen, andere Städte im Westen sind jedoch schneller zu erreichen, als von Leipzig oder Magdeburg. Und das hat nichts mit Ost-West zu tun, sondern liegt alleine in den Bevölkerungsdichten und der klassischen Ausrichtung des Verkehrs in Nord-Süd-Richtung (wegen der Seehäfen eindeutig der wichtigere) zusammen.
Daher kann man wirklich nicht von Dresdner Neoliberalismus im Verkehr sprechen. Und das Verkehrswesen hat natürlich etwas mit Wirtschaft zu tun, ebenso wie mit Soziologie und Bauingenieurwesen. Oder möchten Sie etwa behaupten, dass beispielsweise der Wirtschaftsfaktor Kraftstoffpreis oder eine Pkw-Maut und damit ein fahrleistungsabhängiger Preis für Pkw-Kilometer keinen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Verkehr herstellt.
Ganz so einfach ist es nämlich auch nicht…
Viele Grüße,
Martin Randelhoff