Analyse Gastartikel Öffentlicher Personennahverkehr

Der ÖPNV und das Corona-Virus – Wege in und aus der Krise

Foto: Stadtbahn Hannover von Philipp Kosok @ QIMBY.net - CC0 1.0
Die Covid-19-Pandemie hat den öffentlichen Personennahverkehr im Jahr 2020 in eine schwere Krise gestürzt. Gleichzeitig bietet die schwierige Lage auch Chancen, von welchen das ÖPNV-Angebot langfristig profitieren könnte.

Dies ist ein  von Niklas Fischer. Wenn auch Sie Interesse haben, hier einen Gastartikel zu veröffentlichen, dann schreiben Sie mir bitte.

“Die Qualität des ÖPNV ist ein Gradmesser für die Lebensqualität in unseren Städten und auf dem Land. Der ÖPNV muss attraktiv, sicher, verlässlich und bezahlbar sein.”1 Ein Statement unseres Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur, Andreas Scheuer, das während der Corona-Krise aktueller denn je zu sein scheint.

Seit Beginn diesen Jahres stellt das Virus COVID-19 unseren Alltag, wie wir ihn bisher kannten, gänzlich auf den Kopf. Davon bleibt auch der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bzw. die Mobilität der Menschen im Allgemeinen nicht verschont. Untersuchungen zeigen, dass im Verkehrssektor besonders der ÖPNV als großer Verlierer der coronabedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens dasteht und in Relation zu anderen Arten der Fortbewegung einen verhältnismäßig großen Anteil des Modal-Splits einbüßen musste.2 Maßnahmen wie die umfassende Umstellung der Arbeit auf das Homeoffice, die generelle Reduktion der Arbeitszeit und des damit einhergehenden verringerten Pendelverkehrs und/oder das Vermeiden von Massenverkehrsmitteln aus Angst vor einer Ansteckung führten dazu, dass die Nachfrage im um bis zu neunzig Prozent einbrach.3

Dabei stellen die Busse und Bahnen des öffentlichen Personennahverkehrs einen unverzichtbaren Bestandteil der Mobilitäts- und Alltagskultur in Deutschland dar, der jedoch auch ohne eine Pandemie solchen Ausmaßes im Nacken, keinen leichten Stand hat.4 In ständiger Konkurrenz zum eigenen PKW und einem zunehmenden Angebot alternativer Mobilitäts-Services wie Shared-Bikes oder E-Scootern, deckt der ÖPNV in Deutschland lediglich 50 % der anfallenden Kosten durch Ticketverkäufe, sodass eine erhebliche Subventionierung durch die öffentliche Hand notwendig ist.5 Vor diesem Hintergrund fallen neben dem Imageschaden, den der ÖPNV als angeblicher Ansteckungs-Hotspot erlitten hat, die finanziellen Einbußen durch ausbleibende Ticketverkäufe besonders schwer ins Gewicht.

Doch wie wird und wie ist dieser Situation zu begegnen? Ganz allgemein gilt laut Bundesregierung eine Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ebenso wird auf die Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 Metern und der geltenden Hygieneregeln verwiesen. Zusätzlich können regionale Maßnahmen durch die jeweiligen Bundesländer ergriffen werden.6 So ist vielerorts eine provisorische, räumliche Trennung der Fahrzeugführer/Fahrzeugführerinnen von den Passagieren/Passagierinnen durch Absperrbänder, Folien oder Trennwände, ein Einstellen des persönlichen Ticketverkaufs und eine Zunahme von Reinigungsmaßnahmen zu beobachten. Mit Blick auf die durch die Corona-Pandemie bedingte, wirtschaftliche Schieflage der Verkehrsunternehmen stellt der Bund 2,5 Mrd. Euro in Form eines Rettungsschirms bereit. Zusätzlich werden momentan weitere Finanzhilfen durch die Bundesländer diskutiert.7

Jedoch eröffnen sich durch die gegebene Situation bei allen auftretenden Problemen auch gewisse Chancen, die nicht unbeachtet und vor allem nicht ungenutzt bleiben sollten. So bietet sich dem ÖPNV, im ständigen Wettstreit vor allem mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) stehend, mehr denn je die Gelegenheit sich die bestehenden Potenziale der Digitalisierung zunutze zu machen. Denkbar sind hierbei flexible und adaptive Ticketing-Angebote, die sich individuell an die Bedürfnisse des/der Nutzers/Nutzerinnen anpassen. Resultierend aus der Begebenheit, dass mit der Möglichkeit, aus dem Homeoffice zu arbeiten, weniger Wege zum oder vom eigentlichen Arbeitsplatz zurückgelegt werden müssen, wären Angebote interessant, die basierend auf einem Check-In-/Check-Out-System via Smartphone8 die monatlich abgerufene Fahrleistung erfassen und abrechnen. Ergänzend wäre an dieser Stelle eine angepasste Tarifierung sinnvoll, die dem/der Kunden/Kundin ein preislich interessantes Angebot liefert, das zwischen den klassischen Einzel-, Wochen- und Monatstickets liegt. Ebenso würde sich in der aktuellen Situation ein Angebot nach dem Prinzip des klassischen Mehrfahrtentickets anbieten, bei dem der/die Kunde/Kundin zu Beginn des Monats eine festgelegte Anzahl an Fahrten bucht, weil er/sie bspw. nur an zwei Tagen der Woche ins Büro fährt, und auf diese Buchung einen entsprechenden Mengenrabatt erhält. Ein “Homeoffice-Ticket” ist vielleicht nahe liegender, als wir denken. Generell bietet die Digitalwirtschaft die Möglichkeit, die benötigte Transportleistung und deren zeitliche Gültigkeit stärker voneinander zu entkoppeln.

Betrachtet man die Situation zudem aus der Warte eines Autobesitzers, werden die hohen Fixkosten, die zur Vorhaltung eines eigenen PKW nötig sind, zum Argument, das in Zeiten verringerten Pendelverkehrs schwerer denn je zum Tragen kommt. So könnten beschriebene oder ähnliche Angebote des ÖPNV im Zusammenspiel mit der zunehmenden Arbeit aus dem Homeoffice zum Auslöser und Katalysator des Umstiegs vom eigenen Auto auf den ÖPNV werden, den man seit langer Zeit verzweifelt herbeizuführen versucht.

Im Allgemeinen wäre es wünschenswert, wenn sich die Berichterstattung im Bezug auf die momentane Lage des ÖPNV wieder in eine etwas konstruktivere Richtung entwickeln würde. Zwar ist die Situation nach wie vor schwierig, jedoch können aus dieser misslichen Lage und des sich ändernden Mindsets vieler Menschen in Anbetracht der sich verschiebenden Randbedingungen auch Ideen und Chancen entstehen die Mobilität der Zukunft nachhaltig zu beeinflussen. In diesem Sinne: Bleibt positiv, bleibt gesund!

Verweise

  1. BMVI. Öffentlicher Personennahverkehr ÖPNV, 2020. URL https://bit.ly/32GWFOx.
  2. Tadej Brezina, Takeru Shibayama, Fabian Sandholzer, Barbara Laa, Melissa Kapfenberger, Ulrich Leth, Helmut Lemmerer und Günter Emberger. Der COVID19-Lockdown und die Mobilität. S. 21-23, 2020.
  3. Hansjörg Arnold, Christiane Heinrich-Köhler, Frank Snaga und Maximilian Rohs. Blickpunkt Verkehr – Aktuelle Informationen rund um den ÖPNV, 2020. URL https://pwc.to/2WE7WLv.
  4. UBA. Öffentlicher Personennahverkehr, 2020. URL https://bit.ly/2BkulWU.
  5. BMVI. Öffentlicher Personennahverkehr ÖPNV, 2020. URL https://bit.ly/32GWFOx.
  6. Bundesregierung. Informationen für Reisende und Pendler, 2020. URL https://bit.ly/2ZHxLMI.
  7. DStGB. Rettungsschirm für die Kommunen wichtiges Signal, 2020. URL https://bit.ly/3fMn7tJ.
  8. siehe VMT. Ticketkauf – Check-in/Check-out, 2020. URL https://bit.ly/2BfbMmO.
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Niklas Fischer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts Verkehr und Raum an der FH Erfurt im Bereich MaaS. Berater für urbane Mobilität bei der B2M Software GmbH. Master of Science (Traffic & Transport), TU Darmstadt. Interessiert an der Mobilität der Zukunft und der Welt nach dem Auto.

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Tom
Tom
7. November 2020 13:02

Ich habe seit März fast komplett auf ÖPNV und Fernverkehr verzichtet, zugunsten von weniger Strecken sowie Fahrrad. Werde mir jetzt für Fernstrecken ein Auto zulegen. Das Infektionsrisiko ist mir persönlich zu hoch.

Kommentar
Kommentar
15. August 2020 21:18

Check-In-Systeme sind leider anfällig für Überwachung des Fahrgasts und seiner Wege. Wertvolle Daten, die schnell in falsche Hände geraten können bzw. die Privatsphäre einschränken. Herkömmliche, aber vereinfachte und günstigere Netzkarten zu einem Pauschaltarif für Städte und Regionen sollten daher präferiert werden, um diesen potenziellen Vertrauensverlust zu vermeiden. Innerstädtisch ist auch die Prüfung eines Nulltarifs denkbar. All das staatlich gestützt, am besten gegenfinanziert durch Bepreisung des MIV (Internalisierung externer Kosten), da die Klimakrise die Coronakrise bei weitem in den Schatten stellt.

Niklas Fischer
Niklas Fischer
Reply to  Kommentar
17. August 2020 10:49

Hallo,
Datenschutz sollte natürlich ganz oben auf der Liste stehen, da muss ich Ihnen Recht geben. Ich denke jedoch, dass man den Menschen die Möglichkeit geben sollte, solch vereinfachende Angebote nutzen zu können. Ob sie es dann wirklich tun, bleibt ja immer noch ihnen überlassen. Und ja, Alternativen dazu sind natürlich auch wünschenswert.
Bei ihrem zweiten Punkt bin ich ganz bei Ihnen, wobei die Gegenfinanzierung durch Bepreisung des MIV wahrscheinlich noch ein langer und steiniger Weg für uns wird.
Danke und viele Grüße!

Felix Thoma
Mitglied
13. August 2020 20:22

Hallo Niklas,

danke für den positiven Ausblick. In den letzten Monaten gab es tatsächlich viel hysterische Berichterstattung in den Medien — manchmal hilft ein Blick über den Tellerrand in die Realität. Als ich letztens mal wieder mit der U-Bahn gefahren bin, war diese schon fast wieder so voll wie sonst auch. Viele der nicht so hoch qualifizierten und dadurch in der akademischen/journalistischen Debatte vielleicht etwas weniger präsenten Arbeitsplätze sind eben nicht so einfach ins Home Office digitalisierbar — und das sind oft die ÖPNV-Captives. In den nordischen Ländern (nicht nur in Schweden, sondern auch in Dänemark und Norwegen) wird meines Wissens nach derzeit sogar auf eine Maskenpflicht im öffentlichen Personenverkehr verzichtet. Gewisse Regeln können für einen Übergangszeitraum natürlich vernünftig sein, wenn die derzeit verbleibenden Fahrgäste das vom Verkehrsunternehmen erwarten. Sogar wenn langfristig ein größeres Bedürfnis nach Abstand bestehen bleiben sollte, würde dies bedeuten, dass man das Nahverkehrsangebot dementsprechend eher erweitern müsste. Die Finanzierungsfrage ist damit noch nicht geklärt, aber dein Artikel liefert ja einige Ideen. Ich denke auch, dass wir den Zugang für Gelegenheitskunden erleichtern sollten, aber Abonnements bleiben gerade bei einem temporäre Nachfragerückgang wichtig für eine stabile Finanzierung.

Viele Grüße,

Felix

Niklas Fischer
Niklas Fischer
Reply to  Felix Thoma
17. August 2020 10:45

Hallo Felix,
Danke für deinen interessanten Input.
Ich denke auch, dass durch das aktive Management der Hygiene-Maßnahmen schon viel erreicht werden kann und die Leute zum ÖV zurückkehren werden. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass im Fernverkehr schon wieder einiges los ist in den Zügen.
Natürlich bilden die Abonnements im ÖV das finanzielle Rückgrat. Ich denke jedoch, dass durch flexiblere Abonnement-Angebote zusätzliche Kunden gewonnen werden könnten, denen in Zeiten des Homeoffice ihr Auto zu teuer wird.
Liebe Grüße und einen schönen Tag!

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Verfasst von:

Niklas Fischer

Niklas Fischer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts Verkehr und Raum an der FH Erfurt im Bereich MaaS. Berater für urbane Mobilität bei der B2M Software GmbH. Master of Science (Traffic & Transport), TU Darmstadt. Interessiert an der Mobilität der Zukunft und der Welt nach dem Auto.